"Eine Nation ist zerbrechlich"

■ Ärger um einen Frankenkönig: Der Historiker Jean-Paul Couteaux über die 1.500 Jahre zurückliegende Taufe Chlodwigs, die nicht existente Geburtsstunde Frankreichs, den umstrittenen Papstbesuch und die verpaßt

taz: Kurz vor den Feierlichkeiten zum 1.500. Jahrestag der Taufe Chlodwigs am Sonntag kommt es jetzt zu heftigen Reaktionen in der französischen Öffentlichkeit. Haben Sie als Chlodwig- Forscher damit gerechnet?

Jean-Paul Couteaux: Es war zu erwarten, daß die Rechtsextremen und die katholischen Integristen das Thema aufgreifen würden. Ebenfalls vorhersehbar war, daß die Kirche etwas machen würde, auch wenn der Papstbesuch nicht unbedingt absehbar war. Aber immerhin ist die Taufe eines Frankenkönigs ein wichtiges Datum für die Kirche. Selbst diese laizistische Mobilisierung erstaunt mich nicht. Das einzige, was mich überrascht, ist, daß der französische Staat nichts tut; es gibt lediglich ein noch von Mitterrand und Balladur unterzeichnetes Dekret, das die Feierlichkeiten zum 1.500. Jahrestag auf die Liste der nationalen Gedenktage setzt. Das ist unglaublich. Chirac hat eine Kommission gegründet, und als ich ihn in einem offenen Brief fragte, ob Frankreich den Jahrestag zu feiern gedenke oder nicht und welchen Sinn er ihm geben will, hat er den Präsidenten der Kommission, einen Juristen, antworten lassen: Es gebe keine offizielle Doktrin, hat er geschrieben, und man werde eine Briefmarke auflegen. Das einzige, was sie sonst noch organisiert haben, war ein Kolloquium an der Sorbonne. Im kleinen Rahmen.

Warum sollte der Staat den Jahrestag einer Königstaufe feiern?

Die Bekehrung von Chlodwig hatte eine politische Motivation. Es war nicht plötzlicher Glaube. Lange vor der Schlacht von Tolbiac, die laut Gregoire von Tours zu der Bekehrung führte, hatte Chlodwig politische Gründe dazu: Erstens brauchte er Alliierte, um sein Territorium auszudehnen; zweitens brauchte er Legitimität. Um zu regieren suchte er eine direkte Verbindung zur Mehrheitskultur des Volkes. Chlodwig kommt von weit her, er ist germanischen Ursprungs, seine Kindheit hat er im heutigen Belgien verbracht. Er ist ein wenig ein Besatzer. Aber er verwandelt die Besatzung in Legitimität. Das war eine wichtige Geste für die Geschichte der folgenden Jahrhunderte. Das ist die Nation à la française, das ist die Gemeinschaft der Kultur von Herrschern und Beherrschten. Das ist das Gegenteil eines Reiches. Das ist die Kondition der Demokratie. Und wenn Chlodwig Christ wird, dann, um Teil der Mehrheit zu werden.

Er wird aber nicht Franzose, denn das gab es noch nicht.

Aber er näherte sich einer Kultur an, die weitgehend romanisiert war. Und er ermunterte seine Nächsten, dasselbe zu tun. Er favorisierte die gemischten Ehen, die Rom verhindert hatte. Auch das war neu. Er näherte sich der Latinität an. Und gleichzeitig kämpfte er weiter gegen die Sachsen, die Alemannen, die Thüringer. Das ist interessant, denn seine Mutter war Thüringerin. Chlodwig schlägt den germanischen Druck militärisch zurück, ohne jenseits des Rheins erobern zu wollen.

Könnte man das den Anfang von Frankreich nennen?

Es gibt keinen Moment der Geburt Frankreichs. Vielmehr gibt es eine historische Entwicklung, die dafür sorgt, daß es Formen annimmt. Niemand kann sagen: Das war Vercingetorix, wie Mitterrand meinte, oder Chlodwig oder der Sermon von Straßburg 843. Vielleicht war es Philippe August, jedenfalls eher als Chlodwig. Warum nicht die Schlacht von Valmy? Das war ein Krieg gegen Preußen. Vielleicht ist auch das eigentliche Gründerdatum der Aufruf vom 18.6. 1940 [de Gaulle ruft die Franzosen zum Widerstand auf; d.Red.]. Eine Nation ist zerbrechlich, das ist keine Materialität.

Und Cäsar?

Ja, der hat etwas von einem Gründer Galliens. Denn weil es ihn gab, fand sich Gallien in einer Union gegen ihn zusammen. Es gibt aber keinen Anfang und kein Ende der Geschichte. Ein Imperium hat Anfang und Ende. Doch eine Nation wie Frankreich nicht.

Ist der Germane Chlodwig ein Vorgänger der französischen Mischung?

Frankreich ist ein multirassisches Land, aber kein multikulturelles. Es ist monokulturell. Seine Wirbelsäule ist die französische Sprache. Jeder kann Franzose sein. Selbst die Gallier waren Kelten. Chlodwig ist eine Bekehrung. Eine gelungene Integration. Er kommt von woanders her. Und er verwandelt sich zu lokaler Kultur. Das ist ein Mohammed, der sich zur französischen Sprache und Kultur bekennt.

Die Taufe Chlodwigs ist vor allem ein mythologisches Geschehen?

Ein Mythos ist keine Legende, er ist keine Lüge. Es ist eine Wahrheit, die im Laufe der Jahrhunderte um verschiedene Bedeutungen bereichert wurde. Der Sinn wird erneuert, interpretiert. Wenn Chirac schlau gewesen wäre, hätte er zahlreiche Bedeutungen gefunden, zum Beispiel Chlodwigs gelungene Integration. Chlodwig hat mit seiner Taufe den Bischöfen, die vorher Recht sprachen, die zivile Macht genommen. Er ruft sie in Orléans zusammen. Aber er geht nicht hin. Als Sitz seines Königreiches hat er Paris gewählt. „Schreibt mir einen Bericht!“ Das ist eine präzise Trennung zwischen Religion und Politik, die brillante Stunde der Unterscheidung von Staat und Kirche. Die Konflikte zwischen König und Bischöfen, zwischen Monarchen und Papst beginnen.

Ist die Trennung zwischen Staat und Kirche heute in Frankreich unumstritten?

Ein Kruzifixstreit könnte in Frankreich nicht stattfinden. In der Französischen Republik kann man kein Kreuz in der Schule und im Rathaus aufhängen. Und die Kirche hat nicht die Absicht, zu rekatholisieren. Selbst die Bischöfe haben nicht mehr den Willen zu einer hegemonialen Kultur. Die Laizität ist von allen Seiten akzeptiert.

Wenn es überhaupt keine Gefahren für die Gewaltenteilung zwischen Staat und Kirche gibt, warum dann diese Aufregung von laizistischen Republikanern?

Das Problem ist der Papst. Er ist der charismatischste Papst, den wir seit langem hatten. Die Debatte kreist mehr um seine Person, über Abtreibung, Präservative etc. als um die Republik.

Der Papst hat 1980 Frankreich als „älteste Tochter der Kirche“ bezeichnet und Chlodwigs Taufe die „Taufe Frankreichs“ genannt.

Frankreich ist ein Staat, eine Nation und eine Zivilisation. Das darf man nicht verwechseln. Die Kirche hat etwas zu tun mit der Nation. Aber nicht mit dem Staat. Und außerdem: Wenn die Kirche die Mutter ist, wer ist dann der Vater? Descartes? Frankreich ist die Tochter aus der Verbindung zwischen Kirche und Karthesianismus oder Rationalismus. Frankreich ist ein Konglomerat von Leuten mit verschiedenen Ursprüngen und diversen Zugehörigkeiten, die beschließen, sich um gemeinsame Prinzipien und Gedanken zu sammeln: um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – drei im übrigen völlig christliche Werte.

Frankreich ist zugleich aber auch eine bestimmte Beziehung zu seiner Geschichte. Die Feiern von großen Daten wie 1789, 14/18, dem 18.6. 1940. Das unterscheidet das Land von seinen Nachbarn.

Weil wir sonst nichts haben. Warum leben 60 Millionen Franzosen zusammen? Was ist das Kriterium? Die Rasse? Die Sprache? Eine vergleichbare Anthropologie haben die USA – auch wenn deren melting pot nicht so gelungen ist wie die französische Mischung. Deutschland zum Beispiel, da gehört man entweder dazu oder nicht; das ist eine Blutfrage. In Rußland noch stärker. Bei den Arabern ist es eine religiöse Angehörigkeit. Bei den Franzosen ist das viel schwieriger. Es ist nur eine intellektuelle und kulturelle Angehörigkeit. Deswegen ist es so schrecklich, wenn solche Feiern verpaßt werden. Das sind Momente von Eintracht, von Überprüfung der gemeinsamen Werte. Wenn wir keine historischen Gedenkfeiern mehr hätten, gäbe es kein Frankreich mehr.

Warum hält sich der Staat aus den Feierlichkeiten heraus?

Chirac hat sich von der Pariser Intelligenzia einschüchtern lassen. Die wiederum hat auf die Provokationen von Jean-Marie Le Pen und den Rechtsextremen reagiert. Diese sogenannten Linken oder Laizisten argumentieren, daß es undenkbar sei, daß die Republik eine Taufe feiert, die sie für ein religiöses Ereignis halten. Und je länger diese Konfusion dauert, desto mehr florieren die Vereinnahmungen Chlodwigs durch Dritte. Die graue Eminenz der Debatte ist jedoch das Thema Europa. Man traut sich nicht mehr, Chlodwig und Frankreich zu feiern, wo wir beschlossen haben, uns in einem großen Magma aufzulösen. Meines Erachtens ist das europäische Thema weitgehend phantomistisch. In hundert Jahren wird niemand mehr von Maastricht reden, aber noch viele von Chlodwig.

Ist Chirac auch für die Vereinnahmung der historischen Figuren durch die Front National verantwortlich?

Er hätte die orthodoxen gaullistischen Positionen beibehalten sollen. Statt dessen wollte er modernisieren und hat Figuren vergessen, die für die nationale Einheit stehen, wie etwa Jeanne d'Arc und Chlodwig.

Was sollte Chirac jetzt tun?

Vor allem muß er es alleine tun, ohne Kirche, ohne Le Pen, ohne die Laizisten. Er kann eine Rede halten – das macht in Frankreich 90 Prozent der Politik aus – und erklären, welchen Sinn es im Jahr 1996 hat, Chlodwig zu feiern. Das kann er sehr politisch machen.

Muß er sich stärker dem Papst widmen?

Der wird von Chirac empfangen, das dauert eine Stunde, das reicht aus. Interview: Dorothea Hahn