■ Reicht die Kritik an individueller Gewalt gegen Kinder, um das Elend des Kindseins in Mitteleuropa zu beschreiben?
: Keine Spielräume nirgends

Ich erinnere mich noch ganz genau, ich muß etwa fünf Jahre alt gewesen sein. Aus irgendeinem Grund war mein Vater so wütend geworden, daß er mir eine Ohrfeige gab – die einzige, die ich je in meinem Leben bekommen habe. Es sei, so erzählte ich später gerne, ein traumatisierendes Erlebnis für mich gewesen. Was glatt gelogen war. In Wirklichkeit nämlich habe ich triumphiert: darüber, daß mein großer und gerechter Vater sich zur Ungerechtigkeit hat hinreißen lassen. Daß ich – ich! – ihn zur Abweichung von der ehernen Norm – Nicht schlagen! – gebracht hatte. Welches Machtgefühl!

Heute, am Weltkindertag, wird viel von Gewalt gegen Kinder die Rede sein. Besonders viel. Belgien ist überall. Schrecklich. Und noch immer nicht ist der entsprechende Paragraph des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) formuliert, der lediglich feststellt: „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig.“ Statt klarzustellen: „Kinder sind gewaltfrei zu erziehen“, wie es der Bundesrat erst im Juli dieses Jahres forderte.

Höchst beklagenswert. Genau wie das höchstrichterliche Urteil, ein Kind mit einem Gartenschlauch zu schlagen sei keine entwürdigende Maßnahme im Sinne des BGB. Das Kind hatte zuvor die Brille des Vaters kaputtgemacht.

Aber ist der Skandal wirklich der, daß es bei uns – aus diesem Urteil abgeleitet – das „Recht der Prügelstrafe“ (Reinhard Wolff) gibt? Komisch, ich kenne niemanden, der die Prügelstrafe zur Erziehungsmethode erhebt. Aber ich will hier nicht über Zahlen reden, die Erhebungsmethoden der Antigewaltkommission sind an anderer Stelle kompetenter kritisiert worden. Außerdem: Selbst ein einziges prügelndes Elternpaar wäre eines zuviel.

Nein, es geht um die Verengung des Blicks auf die individuelle Gewalt. Seine Hand gegen das Kind zu erheben gilt unter uns aufgeklärten Eltern als das Schlimmste, was man einem Kind antun kann. Und wenn es passiert, fühlen wir uns furchtbar schuldig. Ich weiß, wovon ich rede: Auch ich habe zurückgeschlagen, wenn mein Sohn völlig außer sich nicht davon abließ, auf mich einzuschlagen. Genützt hat es nichts. Nur elend habe ich mich danach gefühlt. Und er sich sicher auch.

Obwohl ich weiß, daß Kindern Übleres angetan wird, als mal von einem Elternteil geschlagen – wohlgemerkt: nicht verprügelt! – zu werden. Nur: Wir bemerken diese verfestigte Alltagswelt kaum noch. Denn wir stricken alle mit an dem System, das Kinder einschnürt. Das sie reglementiert, kontrolliert und in Surrogatwelten abschiebt. Und sie der Lebensräume beraubt, in denen sie sich ungestört mit all ihren Sinnen die Welt aneignen können.

Augenfälligster Motor in diesem gewalttätigen Alltagsszenario ist das Auto. Diese verfluchte Erfindung sorgt dafür, daß die Welt jenseits der Wohnung, jenseits des eigenen Gartens dicht ist; zugepflastert, vollgeparkt und voller Gefahren, übergemangelt zu werden. Also, ab mit Muttern auf den immer gleichen Spielplatz, zum Fußballfeld, zum Park. Unterwegs brüllt man sich an: „Paß auf! Komm an die Hand! Beeil dich, die Ampel wird gleich rot!“ Am Zielort befohlenes Spielen in vorgegebener Zeit; Mutter sitzt mehr oder weniger frustriert daneben. Auf dem Nachhauseweg findet Kind ein Stöckchen und fängt an, auf dem Bürgersteig zu malen. Mutter drängt, Kind möchte weitermachen – die Situation eskaliert.

Die gewaltige Autowelt gestattet kein Entkommen. Zieht die Familie aufs Land oder an den Stadtrand, muß mindestens ein Zweitwagen her. Frau muß ja einkaufen, zur Arbeit kommen und – das Kind zur Schule, zu Freunden oder zum Schwimmunterricht bringen. Wieder ein Auto mehr.

Bleibt die Familie in der Stadt und nimmt in Kauf, daß vor dem Fenster 40.000 Autos am Tag vorbeidonnern, hat das Kind zuwenig Bewegung. Also muß es zum Ausgleich zum Judo-, Karate-, Gymnastik- oder Ballettunterricht gebracht werden – was in der Regel mit dem Auto geschieht.

In den Häusern, in denen die Wohnbedürfnisse der Erwachsenen den Spielen enge Grenzen stecken, setzt sich das Reglement von der Straße fort: „Nicht so laut! Vorsicht, das geht kaputt! Mach den Fußboden nicht naß! Laß das Wasser nicht vom Balkon laufen! Nicht den dreckigen Ball gegen die Wand!“

Zum Ausgleich für die Eingrenzung schaffen wir den Kindern Ersatzwelten: Kindergarten, Streichelzoo, Erlebnispark, Kindervideos. Ja, wir bieten einiges, aber alles unter Aufsicht, alles unter Kontrolle, und sei sie noch so dezent. Die Kinder dabei ihrer elementaren Bedürfnisse beraubend: allein oder mit anderen draußen herumzustreifen, etwas zu erleben, das sie selbst gesucht, selbst inszeniert haben. Etwas Verbotenes, Heimliches, Aufregendes zu tun.

Das ferngesteuerte Auto herumsausen zu lassen kann so aufregend nicht sein. Im Gegenteil: Die Kinder hocken oft verzweifelt auf den Warenlagern in ihren Spielzimmern. „Besser wäre, du hättest mir dieses Auto nicht geschenkt, dann brauchte ich abends nicht so viel wegzuräumen“, heißt die melancholische Dialektik eines Fünfjährigen. Von Kindergeburtstagen kommen die Kinder mit Bergen von Süßigkeiten und Geschenken zurück – eines das andere entwertend.

Alle individuellen Versuche, die Warenflut zu kanalisieren oder zu dosieren, scheitern irgendwann. Auch an uns selber: Wir Erwachsenen können uns schließlich den permanenten Verlockungen ebensowenig entziehen. Und so arbeiten wir daran mit, daß die Kinder systematisch einer lebenswichtigen Fähigkeit beraubt werden: der, sich freuen zu können.

Die Kinder, meinen kompetente Pädagogen, haben es noch nie so gut gehabt wie heute hier bei uns. In der Tat, wir reißen uns alle Beine aus für die Kinder. Aber die Anstrengungen gleichen einem Ablaßhandel: Wir kaufen uns – mit Ponyreiten, Kinderzirkus, Kuscheltier, Kinderteller, Holzspielzeug, Kindersitz – los von der nagenden Einsicht: daß wir Grundbedürfnisse der Kinder eben nicht befriedigen.

Und dabei soll man nicht wütend werden?

Annette Garbrecht