Erst ausgehorcht, dann abgelehnt

Russische Deserteure mußten erst beim deutschen Geheimdienst auspacken, jetzt sollen sie abgeschoben werden – in Rußland droht ihnen jahrelanger Knast. Gerichte schieben Urteil auf  ■ Aus Berlin Barbara Oertel

Die Gelegenheit schien günstig im Oktober 1991. Da entschloß sich Rif Achmetganeew, Oberst- leutnant der Roten Armee und Angehöriger der in Deutschland stationierten Westgruppe, mit seiner Familie zur Flucht in den Westen. Zuvor hatte ihn der KGB mehrmals zwecks Mitarbeit unter Druck gesetzt.

Im Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Zirndorf stellte Achmetganeew einen Antrag auf politisches Asyl und wurde gleich ins Nebenzimmer weitergereicht. Dort hatten Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) und anderer westlicher Geheimdienste Quartier genommen. Die freundlichen Herren zeigten reges Interesse. An Waffensystemen, Interna der Truppe, technischen Anlagen und Lageplänen. Tenor: Erzählen Sie mal. Wir werden dann schon dafür sorgen, daß Ihr Asylantrag durchkommt.

Und Achmetganeew packte aus. In der Folgezeit wurde er vom BND noch zweimal nach Zirndorf vorgeladen, die Befragung dauerte jedesmal drei Stunden. Schließlich boten ihm die Geheimdienstler noch eine Zusammenarbeit an. „Da habe ich unterschrieben. Ich hatte doch keine Wahl“, sagt Rif Achmetganeew. Jahrelang tat sich erstmal gar nichts. Bis zum April diesen Jahres. Da erhielt der 47jährige Post aus Zirndorf. Es gebe keinen Grund für eine Anerkennung. Der Asylantrag werde daher abgelehnt.

Achmetganeew ist nur ein Fall unter vielen. Rund 600 Exrotarmisten haben in Deutschland um Asyl nachgesucht, die meisten Anträge wurden inzwischen abschlägig beschieden. Sollte es tatsächlich zu einer Ausweisung kommen, bedeutet das für die Betroffenen den sicheren Weg in den Knast. Für Fahnenflucht, Verrat oder Spionage sehen russische Gesetze Haft bis zu 15 Jahren, in besondern Fällen sogar die Todesstrafe vor. Auch wer aus anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion kommt, entgeht der Bestrafung nicht. Gemäß einer Konvention aus dem Jahre 1993 haben sich alle GUS- Staaten verpflichtet, die Deserteure an die russische Militärstaatsanwaltschaft auszuliefern. Doch in einigen Fällen nahm der KGB den deutschen Behörden die Arbeit ab und besorgte die „Rückführung“ der Abtrünnigen selber. So verurteilte das Oberste Gericht in Rußland Mitte August 1995 einen Major wegen Spionage für Deutschland zu zehn Jahren Haft. Er war 1991 aus der Westgruppe geflüchtet und später von KGB- Abfangtruppen entführt worden.

Doch die Aussicht auf jahrelangen Knast reicht der Zirndorfer Behörde für eine Anerkennung offenbar nicht aus. Die zu erwartende Strafe wegen Desertion und Landesverrat begründe noch keinen Anspruch auf politisches Asyl, so der Sprecher Wolfgang Weickhardt. Anders sehe es aus, wenn jemand glaubhaft nachweisen könne, daß die geltenden Gesetze verletzt, sprich das Strafmaß überschritten werde.

Rif Achmetganeew reichte, wie die meisten seiner ehemaligen Kameraden auch, Klage gegen den Ablehnungsbescheid ein. Anfang September wurde der Fall im Verwaltungsgericht Stade verhandelt. Der Richter zog es vor, das Verfahren zunächst auf Eis zu legen und beim Auswärtigen Amt ein Gutachten über den Zustand russischer Gefängnisse anzufordern.

Das sei grob fahrlässig, so der Kommentar von Achmetganeews Verteidiger, dem Hamburger Rechtsanwalt Ernst Medecke. Das Gericht sollte lieber die Bedrohung durch den russischen Geheimdienst prüfen. Den Betroffenen werde vorgegaukelt, sie seien in Sicherheit. „Doch die Gefahr besteht, schon lange bevor die überhaupt im Knast ankommen.“ Die Aktion des BND hält der Jurist für absolut rechtswidrig. „Wenn der Geheimdienst schon solche Operationen durchführt, hat er auch die Pflicht, die Leute zu schützen und ihnen das entwürdigende Asylverfahren zu ersparen.“

Medecke hat den Antrag gestellt, Vertreter des BND und des niedersächsischen Amtes für Verfassungsschutz als Zeugen zu laden. Besonders die niedersächsischen Verfassungsschützer könnten einiges zur Klärung beitragen. Vor fünf Monaten hatte ein Beamter der Behörde Achmetganeew zu Hause besucht und gewarnt: Vor der zu erwartenden Strafe in Rußland und dem langen Arm des russischen Geheimdienstes – in Deutschland.

Gestern saß Rif Achmetganeew wieder im Stader Verwaltungsgericht, diesmal als Zuhörer. Verhandelt wurden die Asylverfahren seiner Kameraden Oleg Tschabanow und Wladimir Paschkewitsch. Auch im Fall von Tschabanow entschied das Gericht, daß noch weitere Beweise erhoben werden müssen. Für die Betroffenen eine Atempause, aber keine Lösung ihres Problems. So sieht das auch Rif Achmetganeew. Vor drei Wochen gründete er den Verein Nadeschda (Hoffnung), um die Interessen der Deserteure besser vertreten zu können. „Wir geben die Hoffnung nicht auf. Aber wir alle haben panische Angst, jeden Tag.“