Handlung muß sein

■ Alles eine Frage der Dramaturgie: Die Soap-opera "Linsenstraße" hat viele Hauptdarsteller, einer davon ist der Stadtteil, in dem sie spielt: Kreuzberg

Bernie hat einen Komposthaufen auf dem Hinterhof. Eine Frau reagiert allergisch auf die Keime und erblindet deswegen, wie sie behauptet, auf einem Auge. Jetzt muß Bernie den Komposthaufen wieder wegräumen.

Das mögen Geschichten sein, die das Leben schreibt. Oder Geschichten, die man schreibt, weil man mit dem Leben nichts zu tun haben mag. Eine klassische Soap- opera eben. „Wir waren so glücklich wie Kinder“, träumt Marlene, die Schauspielerin ohne Engagement zum Beginn der allerersten Folge der „Linsenstraße“. Als Kind hat man sich ein Baumhaus gebastelt, in dem man ganz für sich war und in das nur reinkam, wer rein durfte.

Die Kreuzberger haben sich ihr Kreuzberg gebastelt. „Linsenstraße“ ist, so sagt es der Untertitel, „Eine Serie aus Kreuzberg“. Mit einer geliehenen Videokamera wurde die erste Folge in vier Tagen abgedreht und an einem einzigen geschnitten. Entsprechend wacklig geriet das Werk, gibt auch Hauptdarstellerin, Autorin und Regisseurin Christiane Nalezinski gerne zu. Inzwischen ist Folge 6 fertiggestellt, man hat einen festen Sendeplatz im Offenen Kanal, arbeitet mit einer Medienwerkstatt zusammen und hat die Geheimnisse von Schnitt und Gegenschnitt ergründet. Es gibt keine Rückenansichten mehr bei Monologen, statt dessen sogar verwegene Bildkompositionen. Und die Leistungen der Schauspieler verbessern sich geradezu rasant.

Doch die technische Umsetzung interessiert nur am Rande. Nicht umsonst läuft Marlene immer wieder ihren „Graefe-Kiez“ ab, als wollte sie nach dem Rechten sehen. Ist noch alles an seinem Platz? Und Folge für Folge kann sie feststellen, daß Phillipe, der Trödler, immer noch seinen Laden an der Ecke hat, daß das verhaßte Schauplatz-Theater, wo Marlene mehrfach abgelehnt wurde, immer noch die Ladenfenster unsäglich dekoriert; daß Lothar immer noch lispelt; und daß Stefan immer noch als Drag-Queen Juwelia die Dieffenbachstraße hinabstolziert. Es ist gut zu wissen, wo man hingehört zwischen all den Dichtern und Performancekünstlerinnen, Schauspielerinnen und Intendanten.

Manchmal verirrt sich die Handkamera zur Sitzung der Stadtteilzeitschrift oder auch zum Nähkurs für alte Damen. Die Statisten spielen sich selbst, und so wird nicht nur ein Teil des Kiezlebens dokumentiert, sondern auch und vor allem die Kreuzberger Mischung beschworen, die seit dem Mauerfall in Gefahr ist. Und so wie die meisten Schauspieler auch im wahren Leben die Namen ihrer Rollen tragen, so machen dann auch die technischen Unzulänglichkeiten plötzlich Sinn. Wenn das Bild wackelt und der Wind ins Mikrophon bläst, behauptet das Authentizität. Die Katastrophen sind da dramaturgische Notwendigkeiten. Ein bißchen Handlung möchte sein, also muß das Sofa verschwinden und schließlich glücklich wiedergefunden werden.

So balanciert die „Linsenstraße“ immer wieder zwischen Heimvideo und künstlerischem Versuch, übt sich gar in Parallelmontagen wie von Coppola, und durch Alptraumsequenzen weht ein Hauch von „Tod in Venedig“, auch wenn die Brücken hier nur über den Landwehrkanal führen. Hin und wieder fallen zwischen gräßlichen Strickpullovern sogar Sätze, die man sich merken kann: „Gin paßt nicht in Kakao.“ Einst sang Peter Hein „Ich kenne das Leben, ich bin im Kino gewesen“. Das war ironisch gemeint, aber die Fehlfarben kannten auch die „Linsenstraße“ noch nicht. Thomas Winkler

Alle 6 Folgen in Großbildprojektion, dazu Linsensuppe und Live- Auftritte der SchauspielerInnen. 22. und 29. 9., 20 Uhr, KATO, U-Bahnhof Schlesisches Tor.