Barrikadenbau am Malojapaß

Salecina – ein selbstverwaltetes Ferienzentrum im Oberengadin schafft den 25. Geburtstag. Wo einst Herbert Marcuse diskutierte, sind die Politdiskussionen rar geworden. Die Gäste sind treu geblieben  ■ Von Miriam Reddemann

Für Neulinge ist es wie bei der Bewerbung in einer WG: Da kommst du mit dem Gepäck inklusive Schlafsack an und wirst erst mal von den anwesenden Gästen begutachtet. Die sitzen palavernd, rauchend oder kaffeeschlürfend auf dem 300 Jahre alten Lärchenbalken vor der weißen Hauswand mit den drei eigentümlichen Trichterfenstern und wirken wie routinierte „Salecinesen“. Man selber muß sich in den nächsten Tagen zuerst mit all den Regeln dieses Groß-WG-ähnlichen Ferienzentrums in 1.800 Metern Höhe vertraut machen: wie man sich einen möglichst attraktiven der 56 kargen Schlafplätze auf Doppelmatratzen ergattert; welcher Putzdienst am erträglichsten ist; wie gemeinsames Kochen nicht nur Würzdebatten, sondern auch Bekanntschaften garantiert.

Aber wahrscheinlich gehörst du zu den Gästen, die nicht zum ersten Mal hier sind. Schaust schnurstracks nach, ob noch Platz im Viererzimmer ist, um nicht in einem der Zwölfer zu landen. Und wirst von irgendeinem der sonnengebräunten Gäste in lässiger Bergkluft begrüßt: Bist du nicht Wilfried, der Lehrer aus Kassel von der gemeinsamen Wanderwoche 1991, oder nein: Du warst doch 1990 beim Bloch-Seminar.

Weitere Annäherungen beim Abendessen und nach der anschließenden „Koordination“; wenn die Hausdienste verteilt und die Wetterprognosen für den nächsten Tag verkündet sind, bist du fast heimisch. Beim „Getränkedienst“ nach dem Abendessen noch schnell einen Rotwein oder „Chiavennasca“, den Weißen aus dem nahen Chiavenna (Italien), erstanden. Am strapazierten Klavier versucht jemand mit einem lockigen Querflöter Improvisationen, die mal nach Salsa, mal nach Jazz klingen. Das offene Feuer im Kamin wärmt die Gesprächsrunde in der etwas heruntergekommenen Couchgarnitur: Salecina hat dich wieder.

Am 12. Juli 1971 lassen die Schweizer Theo und Amalie Pinkus-de Sassi die Stiftung Salecina eintragen: der notorisch umtriebige Theo (1909–1991), Zürcher Buchhändler, Verleger, Pendler zwischen Kommunisten, Sozialdemokraten und Neuen Linken; seine Frau Amalie (1910–1996), sympathische Aktivisten und Mentorin der erwachenden Schweizer Frauenbewegung. Beide zusammen politische Ersatzeltern für die Generation 68 ff. Geschichte bringt auch das Haus ein, das die Stiftung zur „Errichtung eines Erholungsheims für Wenigbemittelte und Unterstützungsbedürftige“ erwirbt: Das geduckte Bauernhaus mit dem silbrig glänzenden Natursteindach war 1689, der angrenzende Stall 1750 am Fußweg von Maloja zum Cavlocciosee errichtet worden. Hier hatte C.F. Meyer im Roman „Jürg Jenatsch“ seine Eröffnungsszene vorbeilaufen lassen. Beim Stallumbau fanden die freiwilligen Aktivisten mehrere alte Weinflaschen, die auf dem traditionellen Schmugglerpfad von Italien über den nahen Murettopaß hier versteckt und vergessen worden waren.

Das neue Zentrum der linken, alternativen, friedens-, frauen- und sonstwasbewegten Schweizer, italienischen und vor allem deutschen Szene schreibt nach seinem Ausbau in Selbstorganisation selber schnell Geschichte. Beziehungsweise Geschichten: aufmüpfig- amüsante wie das Hissen der roten Fahne, die Umbenennung der Wanderwege in „Straße der Revolution“ und „Ho-Chi-Minh-Weg“ oder der Demoversuch gegen den Schah von Persien bei dessen Skiübungen am Piz Nair; fragwürdige wie Druck und Verkauf von Skipässen durch eine Berliner Besuchergruppe; intellektuelle wie das Seminar mit Max Frisch, Herbert Marcuse und Theo Pinkus.

All das notieren nicht nur die Chronisten der eher wohlwollenden Medien, sondern auch die Bundespolizei. Zwei Jahrzehnte lang lassen die Schweizer Staatsschützer „Anhänger linksextremer Gruppen“ beschnüffeln, notieren Autonummern, erstellen Gästelisten und vervollständigen die insgesamt 29 Karteikarten („Fichen“) mit Informationen aus der Telefonüberwachung von Salecina-Gründer Theo Pinkus, Rekordinhaber mit 250 Fichen.

„In Salecina wird nicht nur politisiert, sondern auch geliebt“, vermerkt eine Staatsschutz-Fiche. Das können Monika und Tocher Sonja bestätigen: Vor 15 Jahren wurde Sonja in Salecina gezeugt. Im Massenschlafsaal. „Mein schöstes Ferienerlebnis“, erinnert sich die 45jährige Ärztin heute. Sonja kommentiert's beim Diabolo-Training gelassen: „Ich find's ganz witzig. Dabei hat meine Mutter immer gedacht, sie könnte keine Kinder bekommen.“ Ihre Freundin Nele folgert altklug: „Das ist halt der Trieb der Natur.“

Die ist auf der Schwelle vom Oberengadin zum Bergell tatsächlich aufregend: Die letzte Eiszeit hat im weiten Oberengadin-Tal als Erbe zwischen Dreitausendern den Moritz-, Silvaplana- und Silser See bei Maloja sowie die zahlreichen Gletschermühlen im Naturschutzgebiet an der Paßhöhe hinterlassen. Die spitzen Bergeller Granitberge hinter dem namensgebenden Piz Salecina (2.599 Meter) stammen von einem Vulkan von vor 35 Millionen Jahren.

Giovanni Segantini und die Giacomettis lebten hier und ließen sich inspirieren. Nietzsche philosophierte im benachbarten Sils vom Übermenschen und hinterließ auf der Landzunge Chast'e im Silser See eine Tafel: „Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit.“ In kaum kleinerer Münze zahlte Th. W. Adorno, regelmäßiger Besucher in der Silser Fünf- Sterne-Hotelburg „Waldhaus“. Dietmar (38) aus Berlin, Ex-Philosophiestudent, -Hausbesetzer und Angestellter im Computerbereich, deklamiert dessen Sentenzen besonders gerne nach gemeinsamen Wanderungen: „Was die Engadinlandschaft an illusionsloser Wahrheit vor der kleinbürgerlichen voraus hat, wird wettgemacht von ihrem Imperialismus, dem Einverständnis mit dem Tod.“ Dabei sind Erhabenheit und Distanz der Natur vom Massentourismus längst relativiert worden: Zweitwohnungsburgen in St. Moritz oder die Abfahrtsski-Areale um die Furtschellas-, Corvatsch- und Diavolezza-Bahn haben zu den sattsam bekannten Folgen des massierten Alpentourismus geführt.

So stolz die Salecina-Chroniken von Bloch- und Feminismus-, Alternativradio-, Tai-Chi-, Alpenökologie- oder Geschichtswerkstattseminaren berichten – auch die Hausbesetzer aus Berlin oder die Manifesto-Leute aus Italien kamen nicht (nur) wegen der Politik nach Maloja, sondern waren vornehmlich Touristen.

Da kam Mitte der siebziger Jahre die Ökologiebewegung gerade recht. Fortan ging es halt um sanfteren Tourismus, ob bei der geforderten Anfahrt per Bahn, der Getrenntsammlung des Mülls oder dem Kauf von möglichst gesunden Lebensmitteln bei möglichst regionalen Produzenten. Und es wurde gegen Speicherstauseeprojekte in den Nochtälern mobil gemacht. Der Präsident des Kur- und Verkehrsvereins, zugleich Besitzer des Kulm-Hotels, mußte Anfang der Neunziger sein 9-Loch-Golfplatz- Projekt zwischen seinem Hotel „Maloja-Kulm“ und dem alternativen Salecina zu den Akten legen. Im Sommer 95 wurden Barrikaden gebaut, um „wilde“ Wanderer daran zu hindern, das örtliche Naturschutzgebiet zu zertrampeln. Ach, das 25jährige Jubiläum sei „harzig angelaufen“, ziemlich mühsam, erklärt Barbara Paz-Soldan (50), eine von fünf „Betriebsleiterinnen“, die sich die drei vollen ganzjährigen Stellen teilen. Von Gästen werden sie nur „Hüttenwarte“ oder, noch schlichter, „Hüwas“ genannt. Die Entscheidungsstruktur ist nicht hierarchisch, auf dem Tisch liegt ein Taschenbuch über Teamarbeit.

So richtig weiß man mit dem Vierteljahrhundert nichts anzufangen. Das Aufsichtsgremium, der Salecina-Rat, hätte gerne ein politischeres Profil mit mehr Seminaren und Polit-VIPs, so wie früher. Aber dessen plakativen roten Aufkleber „25 Jahre frech, links, ökologisch“ finden die Hüwas „unsäglich“. „Wir sind nicht mehr, was wir waren, und wissen noch nicht, was wir sein werden“, formuliert Regula Bücheler (38), gelernte Sozialgeographin.

Madlaina Franziscus vom Kur- und Verkehrsverein, mit 22 jüngste Verkehrsdirektorin der Schweiz und bei Gründung des einst verschrieenen Ferienzentrums noch gar nicht geboren, gibt sich sehr pragmatisch: Ach nein, von den alten Animositäten gegen das rote Salecina wisse sie nichts. Aber jetzt sei das Salecina-Team „vorbildlich“ mit seinen Programmangeboten wie Hochtourenwoche oder dem Open-air-Kino mit Disco. Mit gut 10.000, 10 Prozent der gesamten Maloja-Übernachtungen, ist das selbstverwaltete Projekt in dem rätoromanischen 300-Seelen- Dorf nahe der steilen Paßstraße hinab ins Bergell ein solider Kurtaxenzahler. Das zählt in einer Zeit der Globalisierung, in der das Engadin touristisch auch mit Antalya oder Bali konkurriert. Der Gästerückgang im 56-Betten-Etablissement ist mit 6 Prozent nur halb so groß wie der Ortsdurchschnitt oder in anderen Zentren im Oberengadin mit minus 20 Prozent.

Das muß an den fast programmierten Kontakterfolgen liegen. Der Genius loci, Ambiente und Selbstverwaltung sind Filter, die dafür sorgen, daß auch Alleinreisende oder „unvollständige Familien“ hier in kürzester Zeit Leute mit gleicher Wellenlänge finden. Man kann hier rasch miteinander: Gerd (42), Sozialarbeiter aus Frankfurt mit Tocher Leila (12) und Sohn Niels (15) („alle schnell Freunde gefunden“), Sylvia (33), Grafikerin aus Basel mit dem zweijährigen Janis („die Tradition hier beengt mich nicht“), Georges (54), der DRS-Radioredakteur aus Bern („mal loslassen“), oder Gabriella (38) aus Genua („innamorata in Salecina“), die hier vor vier Jahren ihren deutschen Mann kennenlernte: Man kann hier rasch miteinander. Und auf den Wanderungen zum Nietzsche-Haus nach Sils-Maria, an die Dreiwasserscheide (Rhein, Inn, Maira-Po) am Piz Longhin oder ins Bergeller Filmkulissendörfchen Soglio sprechen die älter gewordenen Ex-Friedensbewegten, -Hausbesetzer, -WG-Mitglieder oder -Alternativprojektler nicht über Karriere und Bausparvertrag, sondern über die Frage: Was wir wollten, was wir wurden.

Soviel Politdiskussionen wie früher werden nicht mehr geführt. Klaus' Versuch, beim Müsli-Frühstück über die Ökosteuer zu diskutieren, endet kläglich. Aber der immer zahlreicher anwesende Nachwuchs der „Bewegten“ belegt spielend, daß er nicht so miserabel erzogen ist, wie sein Ruf vermuten ließe. Dietmar aus Berlin sieht in dem Ferienhaus mit Bibliothek und Kreativsaal sogar ein Modell der Zukunft: „Früher oder später läßt sich das allgemeine Dienstleistungsniveau nicht mehr bezahlen. Da hilft nur noch die Selbstorganisation.“

Allerdings gehört hier kaum jemand mehr zu den „Wenigbemittelten“. Die Halbpensionspreise sind von einst 6 auf je nach Selbsteinstufung 40 bis 54 Schweizer Franken gestiegen. Weil Lohnniveau und Wechselkurs eine allzu große Hürde wären, zahlen Italiener (ca. 10 Prozent der Gäste) niedrigere Tarife. Der gestiegene Gehaltslevel läßt sich auch an den Künsten der Kochcrews abschmecken: Wo es früher verkochte Nudelgerichte gab, werden heute Sherryhuhn oder Forelle in Mandeln goutiert. Das entschädigt viele für dicke Staubflocken unter und Schnarcher in manchen Betten oder die Gemeinschaftsrinne, in der der Zahnputzschleim des Waschnachbarn morgendlich vor einem vorbeischwimmt. Die solidere wirtschaftliche Lage der Gäste zwischen 1 und 81 läßt sich auch an den Autos ablesen. Die dürfen allerdings nur zum Gepäckentladen vorfahren.

Und dann ist wieder Abfahrt. Manche haben sich frühmorgens weggemacht, um Abschiedsritualen zu entgehen. Die anderen tauschen wieder zu viele Adressen aus. Ein letzter Blick auf das Arvenwäldchen Richtung Cavlocciosee, den Aela-Hang mit Orchideen und Trollblumen und die Hauswand mit dem Lärchenbalken davor. Dort sitzen die Verbliebenen, rauchend, kaffeeschlürfend, winkend – und sind gespannt auf die nächsten Gäste.

Bildungs- und Ferienzentrum Salecina-Stiftung, Maloja, Schweiz,

Tel.: 0041-81-8243239;

Fax: 0041-81-8243575