Tod unterm BVG-Bus

Vor 15 Jahren wurde Klaus-Jürgen Rattay nach einer Hausräumung von einem Bus getötet. Sein Tod markierte den Scheidepunkt der Hausbesetzerbewegung  ■ Von Gereon Asmuth

Die Bülowstraße 89 in Schöneberg ist ein unscheinbarer Altbau. Der graue Putz der Fassade bröckelt, nur die Pflanzen auf dem Hof setzten einen Farbtupfer. Am Klingelbrett überwiegen türkische Namen. Nichts erinnert hier noch an die Ereignisse vor 15 Jahren. Am Morgen des 22. September 1981 hatte der damalige Innensenator Heinrich Lummer (CDU) zum Schlag gegen die Hausbesetzerbewegung ausgeholt. Acht der über 150 besetzten Häuser wurden geräumt. Wie Napoleon nach siegreicher Schlacht, berichteten Augenzeugen, sei er anschließend in der frischgeräumten Bülowstraße 89 aufmarschiert, um der Presse die Ergebnisse der „Kaputtbesetzer“ zu demonstrieren, während Bauarbeiter die ersten Fenster auf den Hof schmissen.

Vor dem Haus waren nicht nur die Polizeiketten postiert. Auch mehrere hundert Sympathisanten der Besetzer protestierten gegen Lummers Räumungspolitik. Gegen 14 Uhr wurden die Demonstranten plötzlich und ohne ersichtlichen Grund von der Polizei auf die Potsdamer Straße mitten in den fließenden Verkehr getrieben. Auch der 18jährige Klaus-Jürgen Rattay flüchtete vor den Knüppeln der Polizei. Er wurde von einem Linienbus erfaßt und getötet.

Der Bus sei zuvor durch Steinwürfe angegriffen worden, Rattay habe den Bus angesprungen, hieß es von offizieller Seite, auch wenn das keiner der Augenzeugen bestätigen konnte. Auch das über Polizeifunk gestreute Gerücht, ein Beamter sei durch messerstechende Besetzer lebensgefährlich verletzt worden, erwies sich als Falschmeldung.

Immer wieder vertrieben Polizisten Trauernde, die sich um die Blutlache versammelt hatten. Niedergelegte Blumen wurden zertreten. Am Abend beteiligten sich etwa 20.000 Menschen an einem Trauermarsch. Er endete in einer stundenlangen Straßenschlacht.

Die Räumungen brachten eine wochenlange Spannung zur Explosion. Erst im Mai hatte ein von Richard von Weizsäcker geführter CDU-Minderheitssenat die von Bauskandalen geschüttelte SPD- Regierung abgelöst. Zwar hatten die Christdemokraten verkündet, sich an die noch von der SPD erlassene „Berliner Linie“ zum Umgang mit den besetzten Häusern zu halten. Doch wie heute wieder interpretierten die CDUler den Erlaß nicht als vertrauensbildende Maßnahme, sondern als Grundlage für das Aufräumen um jeden Preis und kündigte im Juli das „Räumungspaket“ an.

Die Besetzer blieben nicht untätig. In einer Zeit, in der es in fast allen größeren deutschen Städten besetzte Häuser gab, folgten Tausende der Einladung zum „Tuwat“-Kongreß Ende August. Die internationalen Besucher diskutieren über Atomkraft, Nachrüstung und Startbahn-West. Am 13. September demonstrierten 80.000 gegen den Besuch des US-Außenministers Alexander Haig in Berlin. Nacht für Nacht drängelten sich Hunderte von „Paten“, darunter viele Hochschulprofessoren und Künstler, in den räumungsbedrohten Häusern.

Nach Rattays Tod schien die Lage in Berlin zunächst unversöhnlicher denn je. Die Hausbesetzer reagierten mit Mahnwachen und Demonstrationen. Mitte November wurden am „Tag X“ 67 Häuser, zum größten Teil scheinbesetzt und gleich wieder geräumt. Auch die Gegenseite ging auf die Straße. Selbst Gewerkschaften riefen zur Kundgebung gegen die „Chaoten“. Eine Besucherdelegation christdemokratischer Bundestagsabgeordneter – unter ihnen der heutige Bundesinnenminister Kanther – zerstörte von den Ausstellungsmachern im Martin-Gropius-Bau geduldete Plakatwände zum Tode Rattays.

Innerhalb der Besetzerbewegung war es vollends unmöglich geworden, eine gemeinsame Linie zu finden. Während die einen nun erst recht jedes Gespräch mit dem „Schweinesystem“ ablehnten, plädierte etwa der Besetzerrat Kreuzberg 36 verstärkt für kiez- oder blockbezogene Handlungsstrategien. Der große Zusammenhalt hatte sich als Utopie erwiesen. Konkrete Vertragsgespräche wurden dann vielfach von einzelnen Häusern geführt.

Die Politiker ließen sich auf die Initiativen der „guten“ Hausbesetzer ein. Im Oktober stimmten die Kreuzberger Bezirksverordneten auf Antrag der SPD für ein halbjähriges Räumungsmoratorium. Sie bezogen sich dabei ausdrücklich auf den „Verfahrensvorschlag des Besetzerrates zur Wintersicherung und Verwaltung der Häuser“. Andere Bezirke folgtem dem Beispiel. Dennoch dauerte es noch Jahre, bis auch die vorerst letzte Besetzung durch Legalisierung oder Räumung ihr Ende fand.

Strafrechtlich blieb der Tod Klaus-Jürgen Rattays ohne Folgen. Zunächst war nur gegen den Toten wegen „gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr“ ermittelt worden, später gegen den „Busfahrer und andere“. Schon Anfang Dezember 1981 wurden die Ermittlungen eingestellt.