"Lafontaines Politik ist rückwärtsgerichtet"

■ Hans-Olaf Henkel, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), kritisiert den SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine. Von der Bundesregierung fordert er weitere Kürzungen im Kranken-

taz: Herr Henkel, Sie waren einmal ein Willy-Brandt-Wähler. Was müßte denn sein Enkel, der SPD-Bundesvorsitzende Oskar Lafontaine, als Wirtschaftspolitiker tun, damit Sie auch ihm Ihre Stimme geben?

Hans-Olaf Henkel: Wenn der so eine Rede hielte wie kürzlich der britische Labour-Vorsitzende Tony Blair vor dem BDI, dann wäre er sicher ein gefährlicher Gegenspieler für die derzeitige Bundesregierung.

Standortwettbewerb, so lautet Lafontaines wirtschaftspolitisches Credo, führt die Nationen in einen verhängnisvollen Abwertungswettlauf. Die Folge: Möglichst niedrige Löhne, niedrige Sozialleistungen und niedrige Umweltstandards. Sehen Sie Ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen so richtig skizziert?

Das ist wirklich ein Witz. Es ist ja genau umgekehrt. Natürlich stehen nicht nur Unternehmen, sondern auch Standorte miteinander im Wettbewerb. Die Globalisierung läßt es einfach nicht zu, eine Mauer um Deutschland zu ziehen, um uns gegen ausländische Konkurrenz zu schützen. Was Lafontaine heute propagiert, ist im höchsten Maße rückwärtsgerichtet, unrealistisch und wird auch von vielen kundigen SPD-Wirtschaftspolitikern nicht geteilt.

Lafontaine plädiert nicht für Abschottung der nationalen Märkte, sondern er will auf die Globalisierung der Wirtschaftsverhältnisse mit einer Globalisierung der Regelungsstandards reagieren: Harmonisierung der sozialen Absicherungs- und Steuersyteme, Abstimmung der Zins- und Geldpolitik.

Wie fast bei jedem Vorschlag ist natürlich auch bei dem von Lafontaine etwas Wahres dran. Nehmen Sie die Europäische Währungsunion als Beispiel. Hinter dem gemeinsamen Wunsch, die Konvergenzkriterien zu erreichen, steht ja mehr als nur die Eurowährung. Dahinter verbirgt sich auch das Ziel, in den beteiligten Ländern eine stärkere wirtschaftspolitische Annäherung etwa in Fragen der Budgetdisziplin, Inflationsbekämpfung oder der Gesundung der Sozialversicherungssysteme zu erreichen.

Was spräche denn dagegen, die deutschen Sozialsicherungssysteme zu exportieren?

Ich glaube, wir können uns bei einer Arbeitslosigkeit von über 10 Prozent nicht anmaßen, den anderen europäischen Ländern unser Modell als beispielhaft zu empfehlen. Man kann mit anderen Modellen – nehmen Sie England, Amerika, Schweden oder Portugal – die Arbeitslosigkeit wirksamer bekämpfen. Ich bin davon überzeugt, daß die europäische Währung langfristig auch zu einer Angleichung der Sozialstandards führen wird, nur es werden nicht unbedingt die deutschen sein. Am deutschen sozialen Wesen wollen nicht alle genesen.

Wo soll denn Ihr Weg hinführen, wenn nicht in den Abwertungswettlauf?

Ich habe auch kein Patentrezept gegen die Arbeitslosigkeit, aber mit unserem Konzept „Entlasten statt entlassen“ zeigen wir einen Weg auf, um die Arbeitslosigkeit drastisch zu verringern. Einiges von unseren Vorstellungen findet sich inzwischen in den jüngsten Beschlüssen der Bundesregierung wieder. Eine Alternative zur Globalisierung gibt es nicht. Im übrigen ist es ja nicht so, daß etwa die Inder auf ihrem heutigen niedrigen Lohnniveau bleiben wollen. Die Geschichte hat doch gezeigt, daß viele ehemalige Schwellenländer heute ordentliche Löhne zahlen können – übrigens netto. Gemessen an den Lebenshaltungskosten ist der Unterschied zu uns bei vielen europäischen Ländern dabei gar nicht mehr so groß.

65 Prozent der deutschen Direktinvestitionen gehen ins europäische Ausland, weitere 18 Prozent in die USA. Das sind keine Niedriglohnländer, und deshalb führt doch die Argumentation mit den Billiglöhnen in die Irre.

Irrtum! Die amerikanischen und englischen Lohnkosten sind insgesamt fast nur halb so hoch wie bei uns, und die französischen Löhne liegen 20 Prozent unter unserem Niveau ...

... und die Arbeitslosigkeit in Frankreich ist höher als bei uns ...

... wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, daß uns unsere hohen Löhne – und dabei insbesondere die stark gestiegenen Lohnzusatzkosten –, die hohe Steuer- und Abgabenbelastung sowie eine absurde Regulierungsdichte die Probleme bescherten.

Das Münchener Ifo-Institut stellt das genaue Gegenteil fest. Die deutschen Lohnstückkosten – und die sind ja für die Wettbewerbssituation relevant – sind nicht höher als in den wichtigen Konkurrenzländern. Auch die deutsche Steuerbelastung läßt laut Ifo Wettbewerbsnachteile nicht erkennen.

Das ist eine absolut unzulässige Schlußfolgerung. Einige in der Ifo- Studie enthaltenen Aussagen widersprechen völlig denen aller anderen Institute und Sachverständigen. Sie sind sachlich völlig unhaltbar.

Die Stückkostenanalyse des Berliner DIW weist in die gleiche Richtung. Und nach der jüngsten OECD-Untersuchung liegt Deutschland bei den Steuerlasten im Mittelfeld.

Solche internationalen Vergleiche sind immer problematisch und sachlich anfechtbar. So sind zum Beispiel die Gewerbekapital-, Gewerbeertrag- und die Vermögensteuer in dem OECD-Steuervergleich gar nicht berücksichtigt. Wir sind Weltmeister bei der Steuer- und Abgabenquote. Ein westdeutsches Industrieunternehmen, das Gewinne macht, zahlt heute durchschnittlich etwa 65 Prozent an Steuern. Die Japaner liegen mit 59 Prozent fast so hoch wie wir, die Franzosen liegen bei 45, die Engländer bei 35 Prozent und das ehemalige Hochsteuerland Schweden bei 28 Prozent. Genau diese Situation hat dazu geführt, daß im ersten Halbjahr 1996 Ausländer in Deutschland ganze 200 Millionen Mark investiert haben – also praktisch nichts.

Steuern runter, Staatsquote runter – und die Arbeitslosigkeit verschwindet? Glauben Sie das wirklich?

Ich bin ein notorischer Optimist. Wir müssen uns nur umsehen in der Welt. Nehmen sie Neuseeland. Vor fünf Jahren noch hatte das Land eine extrem hohe Staatsquote, gewaltige Sozialausgaben, eine hohe Arbeitslosigkeit und eine hohe Regulierungsdichte. Dann ist eine neue Regierung gekommen und hat gesagt, Schluß damit, jetzt räumen wir den Laden mal auf. Innerhalb von vier Jahren konnte die Arbeitslosigkeit fast halbiert werden, und aus den Staatsschulden wurden Überschüsse.

Amerika ist das zweite Beispiel, was Sie immer gern nennen. Über 8 Millionen neue Jobs in den letzten Jahren. Nur ein Fünftel dieser Jobs garantieren nach Angaben des Havard-Professors A. Markowitz aber ein ausreichendes Einkommen.

Sachte, sachte. Das ist eine Mär. Zwischen 1989 und 1995 wurden 6,7 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen. Nur etwa ein Fünftel davon waren sogenannte Billigjobs. Es gibt dort Berufsbilder und Jobs, die bei uns völlig unterbelichtet sind: Telearbeitsplätze, Software-Ingenieure, große Entertainmentbereiche, der ganze Multimediabereich – da haben wir einen riesigen Nachholbedarf mit großen Chancen. Es stimmt, wir haben in Amerika eine relativ hohe Anzahl von „working poor“. Bei uns gibt es das nicht, weil ein verheirateter Arbeitnehmer mit zwei Kindern im untersten Tarifbereich der Metallindustrie nach Abzug der Steuern und Abgaben weniger Geld hat, als wenn er Sozialhilfe bezieht. Ich plädiere nicht dafür, das amerikanische Modell zu übernehmen, aber ich glaube, es ist für die meisten Menschen besser, selbst ihr Geld zu verdienen, anstatt es beim Sozialamt abzuholen. Wir erklären uns selbst zum Hochlohnland und weichen der Frage aus, was mit den Menschen geschehen soll, die eine niedrige Qualifikation haben.

Die zwei Millionen Arbeitsplätze, die Sie bei Umsetzung der BDI-Vorschläge erwarten, wären zum Teil auch solche Billigjobs?

Ich halte eine solche Abwertung von wenig qualifizierten Tätigkeiten für unzulässig und arrogant. Sicher brauchen wir auch viele solcher Jobs.

Das Sparpaket der Bundesregierung werten Sie nur als einen „guten Anfang“. Für Norbert Blüm ist jetzt das Ende der Fahnenstange erreicht. Heiner Geißler spricht davon, die Unternehmen hätten nun eine „Bringschuld“ für Arbeitsplätze.

Wir sind ja gerne bereit zu bringen, aber dazu müßte noch ein bißchen mehr passieren. Ich bin wirklich ein großer Befürworter von Signalen. Wenn es heute eine verbindliche Zusage gäbe, daß die Steuerreform eine tatsächliche Entlastung der Unternehmen mit sich bringt, dann würde sich dadurch schon heute das Investionsverhalten verändern. Auch bei den Kranken- und Sozialversicherungssystemen ist noch eine Menge an Einsparungen möglich. Wenn wir da marktwirtschaftliche Elemente einführen würden, könnten wir diese System wesentlich kostengünstiger gestalten, und zwar ohne Abstriche am Leistungsniveau. Wir brauchen in allen Bereichen frischen Wind, mehr Konkurrenz und die Förderung einer Wagniskultur. Wenn 50 Prozent der deutschen Hochschulabgänger angeben, in den öffentlichen Dienst zu wollen, dann ist das ein Alarmzeichen für die Entwicklung in Deutschland.

Gegen immer neue Forderungen seitens der Industrie und ein Zerreden des Standorts Deutschland hat sich selbst Bundeskanzler Helmut Kohl gewandt. Manche vergäßen bei ihren „dümmlichen Reden“ mitunter, „daß das soziale Klima ein wichtiger Investitionsfaktor“ sei. Er soll damit auch Sie gemeint haben.

Ich fühle mich davon nicht angesprochen. Ich stelle auch nicht die Vorteile des sozialen Konsenses in Abrede.

„Schluß mit der Konsenssoße“ stammt von Ihnen.

Ich bin dagegen, sich immer nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen. Man muß das als richtig Erkannte notfalls auch gegen Widerstände durchboxen. Gerade der Bundeskanzler hat hierfür ja die Richtung angegeben und die entsprechenden Gesetze in den letzten Tagen durchgesetzt.

Sie haben gesagt, Sie hätten der Regierung „viel Arbeit abgenommen“.

Einige Kollegen beziehen ebenso wie ich wirtschaftsfreundliche Positionen, die auch in anderen Ländern überhaupt nicht strittig sind, hier aber als extrem gelten, mit denen wir es den Entscheidern etwas leichter machen, sich sozusagen in die Mitte zwischen uns und den Gewerkschaften zu stellen. Wir kriegen dabei eine Menge ab, aber das gehört in dieser Funktion wohl dazu.

Aber die Bundesregierung dankt es Ihnen anscheinend nicht. Ihr Verhältnis zum Bundeskanzler soll sehr abgekühlt sein.

Dieser Unsinn wird auch durch ständiges Wiederholen nicht richtig.

Wollen Sie es den Entscheidern, mithin der Bundesregierung, auch in den nächsten zwei Jahren leichter machen. Kandidieren Sie im November erneut für die Präsidentschaft?

Selbstverständlich.

Sie haben einem Bekannten ein Konto zur Verfügung gestellt, über das ein strittiges Grundstücksgeschäft abgewickelt wurde. Soviel „Naivität und Leichtsinn“, schrieb die „Zeit“, stünde einem Wirtschaftschef „schlecht zu Gesicht“.

Ich bin ein Mensch, der anderen Menschen zunächst einmal Vertrauen entgegenbringt – so lange, bis sie mich enttäuschen. Ich habe dieses Konto jemandem zur Verfügung gestellt, der mir fest versprochen hat, daß alle seine Einnahmen versteuert sind. Jetzt hat sich ganz klar herausgestellt, das war auch so.

Ist das Steuerverfahren schon endgültig eingestellt?

Nein. Da hat ein mehrfach Vorbestrafter eine Anzeige wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung gestellt, und nun muß man der Staatsanwaltschaft die nötige Zeit lassen, das abzuarbeiten. Das dauert eben ein bißchen. An der Versteuerung der Einkünfte besteht aber überhaupt kein Zweifel mehr.

Rechnen Sie jetzt mit einem Gegenkandidaten?

Eigentlich nicht. Aber ich kenne eine Reihe von Leuten, die das Amt hervorragend ausfüllen könnten. Das Interview führten

Walter Jakobs und Dieter Rulff