„Es war wie eine Familie“

■ Nach zehnjähriger Planung eröffnete das Fabrikmuseum Nordwolle in Delmenhorst / Zur Einweihung kamen alte „Wolleaner“ zu Kaffee und Kuchen / Ihre Erinnerungen beleuchten die Industriegeschichte des 20. Jahrhunderts

Eigentlich wollte er immer zur See fahren, doch hingekommen ist er nie. Stattdessen landete er 1939 bei der „Nordwolle“ in Delmenhorst, einem der bedeutendsten Unternehmen der wollverarbeitenden Industrie mit 30.000 Beschäftigten in der besten Zeit. Arbeiter wurden gebraucht. Wann anfangen? Sofort. Paul Tschetschok, 79, wurde kurzerhand in einen Lanz-„Bulldog“, ein schwerfälliges einzylindrisches Gefährt gesetzt. Tschetschok brachte damit Wollballen aus Bremen in die Fabrik. Bald wurde er befördert, fuhr keine Wolle mehr, sondern die Chefs. Das schmucke Häuschen direkt am ehemaligen Fabriktor bewohnt er noch heute mit seiner Frau Martha. Wer das kürzlich eröffnete Fabrikmuseum besucht, fährt direkt daran vorbei.

Auch die ehemaligen „Wolleaner“, die sich – seit 1988 wie jedes Jahr – auf dem Areal, der „Stadt in der Stadt“, trafen. Alfred Meier, Disponent aus der Abteilung Sortierung, seit '46 dabei bis zur Liquidation der „Wolle“ 1980. Herbert Werner und Erich Peschke, beides Meister, beides Schlesier. Wie überhaupt das Treffen der Ehemaligen durchaus landsmannschaftlichen Charakter hat: Niederschlesier hier, Oberschlesier da. „Es war wie eine Familie“, bekennt Erwin Peschke, ein „1000prozentiger Gewerkschafter“, wie er von sich sagt.

Gemeinsamer Rundgang durchs Museum, ohne Tränen, aber mit Enthusiasmus. Hände, die nochmal über die alten Maschinen fahren, routinierte Handgriffe beim Vorzeigen technischer Details. Hier, in der Maschine, verfing sich doch in den 70er Jahren der Arm einer Arbeiterin. Drei Stunden lang hing der Arm in den Greifern, weil keiner wußte, wie die Maschine zu demontieren sei. Außer Herbert Werner. Andere Unfälle gab's sonst nicht, dafür nette Streiche. In der Kämmerei mußten die Arbeiterinnen immer an der gerade gewaschenen Rohwolle riechen, ob sie auch ordentlich gewaschen war. Da ließ Herbert Werner mal einen fahren. Erstaunte Gesichter bei den schnüffelnden Frauen. Großes Hahaha.

Kein Hahaha, als die „Norddeutsche Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei“ (NWK) acht Wochen lang brach lag. 1958 war das, beim großen Streik. Zwölf Pfennig mehr Lohn pro Stunde hatten die ArbeiterInnen gefordert; neun bekamen sie schließlich.

Zum vorgesehenen Streikbeginn hielt Gewerkschaftler Erich Peschke, damals noch kein Meister, die Maschinen an. „Normalerweise würde dich das Tausende von Mark kosten, für jede Stunde, die die Kämmerei still steht“, sagte sein Vorgesetzter. Und drohte: „Das wirst du dein Leben lang bereuen; die Arbeitgeber sitzen doch am längeren Hebel.“ Hat er es bereut? „Ich wurde Meister mit zehn Jahren Verspätung.“

Paul Tschetschok hat nicht gestreikt, er hat die Vorstandschef gefahren. Eine mutige Entscheidung, findet er noch heute. Die Chefs haben ihn zum Essen eingeladen, ihm auch mal 100 Mark zugesteckt. „Das hätten die vielleicht nicht mehr gemacht, wenn ich gestreikt hätte“, sagt Tschetschok und packt Ehrennadeln aus. Für eine Million Kilometer im Mercedes Benz; für 100.000 Kilometer im BMW. Abrufbereit war er immer, er und seine drei Kollegen. Manchmal klingelten sie ihn auch aus dem Bett. Kein Problem für Tschetschok: „Es war ein schönes Leben“.

Schön war's zum Beispiel mit dem Herrn Pilz, einem großen Tier aus der Firma. Den fuhr er nicht nur geschäftlich, man ging auch zusammen Pilze sammeln. Frau Pilz und Frau Tschetschok machten „die kleine Tour“, Herr Pilz und Herr Tschetschok die große. So eine Art Freundschaft war das schon. Und Jürgen Ponto, damals Chef der Dresdner Bank und 1977 von der RAF ermordet, gehörte auch zu denen, die Paul Tschetschok kutschierte, wie er stolz vermerkt. Und war die Dresdner Bank nicht Schuld am Untergang der Nordwolle? Das sagt Sortierer Alfred Meier im Verschwörerton, er fürchtet, daß ihm die Bank an die Rente gehen könnte für eine solche Unterstellung.

Manche sind noch heute sauer über den Konkurs von 1980 und setzen keinen Fuß über die Schwelle. Unverständlich für Berthold Bellermann, 51 Jahre mit dabei und heute Mitglied im Förderverein. Alle wären doch trotz Konkurs finanziell gut weggekommen damals. Trotzdem: Einige Tische blieben leer, Kaffee und Kuchen unangetastet. Die Volkstanzgruppe Düsternort tanzte vor weniger Ehemaligen als erwartet. Doch die, die kamen, waren bester Dinge. Die, die kamen, waren keine gicht- und rheumageplagten, ausgemergelten Malocher. Manche sahen aus, als wollten sie sich geradewegs wieder an die Werkbank stellen. Die „Wolle“ als Jungbrunnen, die Arbeit an den Spinnmaschinen eitel Sonnenschein?

Der Illusion zu verfallen, beugt das Fabrikmuseum vor. Denn Museumsdirektor Gerhard Kaldewei und seine Leute haben sich alle Mühe gegeben, die alten Maschinen in einen Rahmen moderner Museumspädagogik zu stecken. Noch fehlen die meisten Schilder und Kommentare an den Exponaten, doch kompensiert wird das durch die freundlichen MuseumsmitarbeiterInnen, die auch mal auf den ratlosen Besucher zugehen: „Das ist eine Schenkung von Lahusen.“ Der originale hölzerne Wagen, in dem einst der Lahusen-Nachwuchs durch den herrschaftlichen „Wolle-Park“ gefahren wurde. Mit Liebe nachgebildet auch der dornenbewehrte Zaun, durch den neugierige Arbeiterkinder Gucklöcher gebohrt hatten, um Einblick zu bekommen in die Welt der Fabrikbesitzer. Wer im Museum einen Blick durch die Löcher wirft, sieht auf hintergrundbeleuchtete Archivfotos: die Lahusen-Villa, der Park, die Familie im Festtagsstaat.

Glanz und Gloria vergangener Zeiten vermittelt auch der Nachbau des vergoldeten Eingangsportals des Verwaltungsgebäudes der NWK; heute beherbergt es den Finanzsenator. Augenfällig wird das unmittelbare krasse Nebeneinander von proletarischen Heerscharen, angeworben aus Ostdeutschland und Osteuropa, und dem luxuriösen Lebensstil der Fabrikanten-Familie des Bremer Kaufmanns Martin Christian Leberecht Fürchtegott Lahusen (1820-1898). Natürlich sieht man nichts von dem Wollstaub, der in den Hallen hing, hört nichts von dem Lärm der Maschinen (die wie neu aussehen), riecht kaum etwas von den schweren fettigen Ausdünstungen der Schafwolle, die bereits 1946 wieder aus Argentinien, Australien und Neuseeland nach Bremen kam. Kommentierende Texttafeln bleiben zwangsläufig abstrakt.

Konkreter dagegen ein Mauerstück, das als Teil der „Enklave“-Umzäunung aus dem Gelände ins Museum geholt wurde. In der Enklave wohnten dicht an dicht und mit schichtweise vermietetem Bett die angeheuerten Tagelöhner – ihr Hungerlohn ging drauf für die Miete. Während des Krieges kamen hier die Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter unter. Gerahmte Aktennotizen, in Reihe an der Mauer angebracht, zeugen davon. Jan Iwanow, Rußland. Eintritt in die Kämmerei 6.6.44. Austritt 30.6.44. Grund: von Gestapo in Haft genommen. Oder: Alphonsew Polfliet. Untauglich; zurück nach Lille/Frankreich. Nach dem Krieg wohnten Flüchtlinge hier. He.ute wuchert das Gras auf der Enklave inmitten der NWK, die zur Straße hin offen, zur Firma hin abgeschlossen war. Bald wird hier wieder gebaut, und dann erinnert nur noch das Fabrikmuseum an die harten Zeiten in der überbelegten Siedlung, die nur einen Ziehbrunnen für alle hatte und Plumpsklos.

Eulen über Eulen in allen Formen und Farben schmücken die gute Stube der Tschetschoks. Martha Tschetschok kommt aus dem schlesischen Eulengebirge. Und Paul Tschetschok erzählt noch, wie er in den 50er Jahren mal mit dem Chef nach Bonn gefahren ist. Und der Chef ihm nach einem Gespräch mit Ludwig Erhard sagte, daß erhard die ganze deutsche Textilindustrie in die Entwicklungsländer verlagern wollte. „Manchmal hört man schon Dinge ...“, sagt Tschetschok. Und dann haben die beiden Tschetschoks es doch etwas eilig. „Jetzt haben wir ,Jeopardy!' verpaßt.“ Jeopardy? „Die Show auf RTL...“

Vielleicht kam Paul Tschetschok wegen „Jeopardy!“ nicht zum Wolleaner-Treffen.

Alexander Musik

Öffnungszeiten des Fabrikmuseums Nordwolle Di.-So. 10-17 Uhr. Am Turbinenhaus 12, Delmenhorst