■ Der neue Typ
: Nur kein Charisma!

Mehr als 300 Minister tun allein in der EU Dienst, an die 600 in ganz Europa. Nochmal so viele Staatssekretäre sind im Amt, an die 10.000 Abgeordnete sitzen in den nationalen Parlamenten. Dazu gesellen sich mehr als drei Millionen regionaler und städtischer Räte in der EU – in ganz Europa fünf Millionen. Dann sind da noch Bürgermeister und andere Wahlbeamte – alles PolitikerInnen, die periodisch den Bürgerkonsens suchen müssen.

Vorbei sind indes die Zeiten, in denen bestimmte „Hochburgen“ selbst dem berühmten Besenstiel die Wahl ins Parlament oder die Gemeindeversammlung garantierten, sofern dieser nur der richtigen Partei angehörte. Selbst die ehemals diktatorischen Staaten Osteuropas können kaum mehr Garantien für eine Wiederwahl geben. Wechselwähler, in vielen Ländern aber auch Ermittlungen von Staatsanwälten wegen Bestechung und Untreue haben die Gemütlichkeit des politischen Amtes erheblich reduziert.

Um seinen Sessel zu behalten, muß sich der Aspirant heute immer neue, raffiniertere Methoden ausdenken, um „anzukommen“. Dabei bilden sich jeweils diverse „Typen“ von Anziehungskraft heraus, deren erfolgreichste dann schnell kopiert wird. Nach dem Krieg waren es vor allem die vertrauenserweckenden Opa- und Onkeltypen (Adenauer, Churchill, auch de Gaulle), in den sechziger Jahren kamen dagegen die experimentierfreudigen Visionäre an die Macht (Brandt etwa oder Wilson), abgelöst ihrerseits von „Machern“ wie Schmidt, Thatcher, Giscard D'Estaing).

Derzeit ist der Gutmensch gefragt. Nach dem Scheitern der globalisierenden Politik der Macher, nach unzähligen Skandalen und Pleiten, nach der Einführung immer undurchsichtigerer Entscheidungsmechanismen und der schwachen Vorstellung der noch von den Visionären ausgeguckten „Enkel“ wünschen sich die Bürger den Typ zum Anfassen. Der kommt in der Regel ohne große politische Erfahrung daher, kann aber meist mit beruflichen Erfolgen aufwarten und vor allem mit einer große Sicherheit ausströmenden Aura des Aufrechten, des moralisch Gefestigten. Und: garantiert skandalfrei.

Selbst der russische Exgeneral Lebed hat mit der Samtpfötchen- und Saubermann-Attitüde Erfolg. Italiens Ministerpräsident Romano Prodi gewann gegen Silvio Berlusconi, indem er der hochtechnologisierten Wahlkampfmaschine des „Machers“ mit dem Fahrrad und dem Autobus entgegentrat und sein mangelndes Charisma zum Markenzeichen dessen stilisierte, der niemanden reinlegen kann. Ähnlich, nur von der politisch anderen Seite, setzte sich Spaniens neuer Regierungschef José Maria Aznar gegen den „Macher“ Felipe Gonzalez durch. W. R.