Die Demokratie der Toten

Wahrheitskommissionen in Ruanda, Südafrika und auf dem Balkan sollen Täter und Opfer im blutigen Bürgerkrieg feststellen. Doch führt die Wahrheit zur Versöhnung? Nur wenn sie sich auf die Gleichheit der Opfer gründet  ■ Von
Michael Ignatieff

Was bedeutet es für eine Nation, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten? Kann die Vergangenheit eines Landes die Bevölkerung krank machen, wie wir von einzelnen wissen, daß die Unterdrückung ihrer Erinnerung sie krank macht? Und kann dann, im Gegenzug, eine Bevölkerung – oder ein sich darum bemühender Teil dieser Bevölkerung – mit seiner Vergangenheit versöhnt werden wie Individuen, die durch den Prozeß der Ablösung von Mythos und Lüge durch Fakten und Wahrheit gehen? Können wir von Nationen und ihrer Durcharbeitung eines Bürgerkriegs oder Massakers sprechen, so wie wir von einzelnen sagen, daß sie eine traumatische Erinnerung oder ein traumatisches Geschehen durcharbeiten?

Das sind prekäre Fragen, und ihre Beantwortung wird nicht leichter, wenn wir den Spuren folgen, auf die uns unsere Metaphern führen. Wir statten unsere Nationen mit Gewissen aus, mit Identität und Erinnerung, als wären sie Individuen. Wenn es jedoch schon eine heikle Frage ist, ob man einem einzelnen Menschen nur eine Identität zugestehen darf, wieviel heikler ist es dann, dies mit einer ganzen Nation zu tun.

Auch wenn dies schwierige Fragen sind, so sind sie doch ebenso dringend und sogar pragmatisch. Das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag sammelt Beweismaterial für die Verbrechen in Exjugoslawien. Der Gerichtshof tut dies nicht nur, weil solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestraft werden müssen, damit das internationale Menschenrecht nicht nur auf dem Papier gilt, sondern auch, weil die juristische Feststellung der Wahrheit über die Verbrechen als Schlüsselereignis für die schließliche Versöhnung der Völker des Balkans gilt.

In der afrikanischen Stadt Arusha sammelt ein ähnliches Tribunal Beweismaterial zum Genozid in Ruanda. Auch hier geht man davon aus, daß Wahrheit, Gerechtigkeit und Versöhnung unlösbar mit der Rekonstruktion zutiefst erschütterter Gesellschaften zusammenhängen. In beiden Fällen – Jugoslawien und Ruanda – wird die begleitende Rhetorik von edlen Absichten geprägt, der Begründungszusammenhang ist jedoch unklar geblieben. Gerechtigkeit an sich ist natürlich kein problematisches Anliegen. Ob Gerechtigkeit jedoch immer der Versöhnung dient, ist alles andere als schlüssig. Auch Wahrheit ist ein hehres Ziel, aber, wie uns ein afrikanisches Sprichwort erinnert: „Die Wahrheit ist nicht immer gut zu sagen.“

In Südafrika sammelt die Wahrheitskommission des ehemaligen Erzbischofs Tutu Zeugnisse von Opfern und Tätern der Apartheid. Tutu selbst hat das Ziel dieser Arbeit als „Förderung der nationalen Einheit und Versöhnung“ und „Heilung eines traumatisierten, zerrissenen, verletzten und gespaltenen Volkes“ beschrieben. Löbliche Vorsätze – aber sind sie in sich stimmig? Schauen wir uns die Annahmen an, die in seinen Worten liegen: daß eine Nation eine Psyche hat, nicht etwa mehrere; daß die Wahrheit mit Sicherheit bestimmbar ist, nicht etwa quälend und fragwürdig, und daß, wenn jeder sie kennt, die Wahrheit die Fähigkeit zur Heilung und Versöhnung hat. Dies sind nicht so sehr dezidierte Annahmen als Glaubenssätze über die Natur des Menschen schlechthin: Wahrheit ist unteilbar, und wenn wir sie kennen, macht sie uns frei.

Solche Glaubenssätze hat auch die Wahrheitskommissionen in Chile, Argentinien und Brasilien inspiriert, die eingesetzt wurden, um die Wahrheit über die in den sechziger und siebziger Jahren von den Militärjuntas zu Tausenden Ermordeten und Gefolterten zu etablieren. All diese Kommissionen haben daran geglaubt, daß eine unter Terror und Lüge krankende Bevölkerung durch die Wahrheit wieder gesunden könne. In allen Fällen waren die Resultate höchst ambivalent. Dafür gibt es Gründe, die an die Sätze des Pilatus erinnern: Was ist Wahrheit? Man muß unterscheiden zwischen der Wahrheit der Tatsachen und einer moralischen Wahrheit, zwischen Geschichten, in denen berichtet wird, was geschah, und Geschichten, die zu erklären versuchen, warum es geschah und wer verantwortlich ist. Die Wahrheitskommissionen hatten mehr Erfolg bei ersteren, weniger beim Einsatz für die zweite. Es gelang ihnen, die Fakten über Verschwinden, Folter und Mord Tausender aufzuklären. Das zumindest gab Verwandten und Freunden den Trost zu wissen, was mit den aus ihrem Leben Verschwundenen genau geschehen war. Es sagt einiges über das menschliche Bedürfnis nach Wahrheit, daß die Verwandten der Opfer die Nacktheit der Tatsachen einem falschen Trost des Nichtwissens vorzogen. Und es sagt einiges über die moralische Anziehungskraft der Großmut, daß die meisten der Wahrheit den Vorrang gaben – vor Rache oder gar Gerechtigkeit. Sie brauchten die Verursacher nicht bestraft zu sehen, um die Vergangenheit endlich ruhen lassen zu können.

Die Wahrheitskommissionen haben viele Akten mit Einzelschicksalen in der schmerzlichen Geschichte der Vergangenheit ihrer Länder schließen können. Auf dieser elementaren, individuellen Ebene haben sie unendlich viel Gutes geleistet. Aber sie hatten auch den Auftrag, eine offizielle Wahrheit zu produzieren und den öffentlichen Diskurs neu zu bestimmen. Sie sollten eine Moral von der Geschichte bieten, das heißt die Genese verbrecherischer Regime erklären und ihnen die moralische Verantwortung für ihre Taten auferlegen.

Die führenden Kräfte in Armee, Sicherheitsdienst und Polizei waren durchaus bereit, die Wahrheit über individuelle Fälle des Verschwindens zuzugeben. Gegen die gerichtliche Verfolgung ihrer eigenen Leute jedoch und ein Geständnis ihrer Verantwortung für die Verbrechen kämpften sie mit Klauen und Zähnen.

Verantwortung zuzugeben hätte ihre Legitimation als Institutionen geschwächt. Der Widerstand der Militärs in Chile und Argentinien war derart, daß die Regierungen, die die Wahrheitskommissionen eingesetzt hatten, sich schließlich zwischen dem Recht und ihrem eigenen Überleben entscheiden mußten. Sie konnten entweder die Verantwortlichen verfolgen und damit einen Militärputsch riskieren oder sie laufen lassen und so für die Konsolidierung der einsetzenden demokratischen Entwicklung sorgen.

Das Ergebnis der lateinamerikanischen Wahrheitskommissionen hat viele von denen desillusioniert, die zunächst glauben wollten, daß eine von allen anerkannte Wahrheit die Bedingung für eine gesellschaftliche Versöhnung sei. Militär- und Polizeiapparate überstanden die Untersuchungen, auch wenn ihre Legitimation dabei Schaden nahm. Ihre Macht blieb jedoch intakt. Für die entsprechenden Gesellschaften waren die Kommissionen zunächst ein willkommener Anlaß, sich der illusionären Hoffnung auf eine endgültig ruhende Vergangenheit hinzugeben. Die Wahrheitskommissionen erlaubten am Ende genau jene falsche Versöhnung mit der Vergangenheit, zu deren Verhinderung sie ausdrücklich kreiert worden waren.

Der deutsche Philosoph und Sozialwissenschaftler Theodor W. Adorno hat diese falsche Versöhnung in seinem Geburtsland Deutschland nach dem Krieg so charakterisiert: „Mit ,Aufarbeitung der Vergangenheit' ist in jenem Sprachgebrauch nicht gemeint, daß man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durchs helle Bewußtsein. Sondern man will einen Schlußstrich darunter ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen. Der Gestus, es solle alles vergessen und vergeben sein, der demjenigen anstünde, dem Unrecht widerfuhr, wird von den Parteigängern derer praktiziert, die es beginnen.“

Das Risiko dieser falschen Versöhnung ist real genug. Aber man kann die Desillusionierung hinsichtlich der Wahrheitskommissionen Lateinamerikas auch zu weit treiben. Schließlich ist ihnen nie ein Mandat zur Transformierung des Militär- und Sicherheitsapparates eingeräumt worden. Wahrheit ist Wahrheit. Sie ist kein gesellschaftliches oder institutionelles Reformprojekt. Und es ist auch nicht realistisch, zu meinen, daß die Wahrheit, sobald sie von einer offiziellen Körperschaft proklamiert wird, damit auch schon von allen, gegen die sie sich richtet, akzeptiert wird. Militärs und Polizei haben ihre Wahrheit, und daß sie an ihr weiterhin festhalten, hat eben damit zu tun, daß auch ihre Version nicht einfach nur ein einziges Lügengespinst ist. Man kann von denen, die meinten, Terroristen oder Aufständische zu bekämpfen, vernünftigerweise nicht verlangen, diese Vorstellung sofort fallenzulassen, nur weil eine Wahrheitskommission heute die damals von ihnen angenommene Gefahr als vollständig grundlos nachweist. Alles, was eine Wahrheitskommission erreichen kann, ist eine Reduzierung der Lügen. In Argentinien hat ihre Arbeit es beispielsweise den Militärs unmöglich gemacht, weiterhin zu bestreiten, daß man von Hubschraubern aus halbtote Opfer ins Meer geworfen habe. Und in Chile kann nicht mehr öffentlich behauptet werden, das Pinochet-Regime habe keineswegs Tausende vollkommen unschuldiger Menschen ermordet.

Eine Kommission zur Etablierung der Wahrheit kann die Spaltungen innerhalb einer Gesellschaft nicht aufheben. Sie kann lediglich das klar umrissene Feld unbestreitbarer Fakten sichten, auf dessen Grundlage eine Gesellschaft die Debatte mit sich zu führen hat. Sie kann diese Debatte jedoch nicht selbst zum Abschluß bringen. Viele Kritiker der Wahrheitskommissionen betrachten die Vergangenheit wie einen heiligen Text, der von Übeltätern gestohlen und beschädigt wurde und nun zurückerobert werden muß, um ihn in einem beleuchteten Glaskasten unter einer großartigen Kuppel öffentlich auszustellen – wie etwa die amerikanische Verfassung oder Menschenrechtserklärung. Vergangenheit jedoch hat nicht die konkrete, unveränderliche Identität eines Dokuments. Vergangenheit ist ein Feld des Streitens, und die Funktion einer Wahrheitskommission ist, wie die jedes anständigen Historikers, den Streit klar herauszuarbeiten.

Wahrheitskommissionen haben die größte Aussicht auf Erfolg in Gesellschaften, die sich bereits auf einen starken politischen Konsens zur Versöhnung haben einigen können, so wie beispielsweise in Südafrika. In Gebieten wie dem ehemaligen Jugoslawien, in denen sich verfeindete Bevölkerungsgruppen jahrelang gegenseitig gefoltert und ermordet haben, sind die Aussichten auf Wahrheit, Versöhnung und Gerechtigkeit wesentlich geringer. Die dortigen Bedingungen haben jedoch, so schrecklich sie auch sind, keinen geringen Erkenntniswert, denn sie illustrieren alles, was an der Beziehung zwischen Wahrheit und Versöhnung so problematisch ist.

Die Vorstellung, daß Versöhnung von einer gemeinsamen Wahrheit abhängt, geht davon aus, daß eine von allen geteilte Auffassung von Wahrheit möglich sei. Was man für wahr hält, hängt aber auch ab von der Vorstellung, die man von sich selbst hat. Und wer oder was man zu sein glaubt, ist zumeist durch das definiert, was man glaubt, nicht zu sein. Serbe zu sein, heißt in erster Linie, weder Kroate noch Muslim zu sein. Wer Serbe ist, wer glaubt, daß Kroaten eine historische Tendenz zum Faschismus hätten, und sich Kroaten umgekehrt definieren, indem sie von einer serbischen Vorliebe für Völkermord ausgehen, dann wäre die Auflösung solcher Mythen gleichzeitig auch der Verlust eines Merkmals für die Aufrechterhaltung der eigenen Identität.

Natürlich setzt sich Identität aus sehr viel mehr zusammen als dem Negativbild des anderen. Viele Kroaten und Serben haben sich gegen solche negativen Stereotypen und den nationalistischen Wahnsinn gewandt, die in ihren Ländern herrschen. Es gab nicht wenige, die um die Erhaltung eines moralischen Standpunkts zwischen ihrer persönlichen und der nationalen Identität gekämpft haben. Aber selbst sie können sich heute nicht mehr vorstellen, daß Zagreb, Belgrad und Sarajevo eines schönen Tages ein und dieselbe Version über die Geschichte des Konflikts akzeptieren könnten. Übereinstimmung mag gerade noch über die Chronologie der Ereignisse erzielt werden, obwohl selbst das natürlich schon ein heftiger Streitpunkt wäre. Die Wahrheit, die für die Menschen zählt, ist keine faktische oder anekdotische Wahrheit, sondern eine der Moral oder Interpretation. Ebenso ist es eine Illusion, anzunehmen, daß die moralische oder interpretative Geschichte der Katastrophe, wie sie ,unparteiliche' oder ,objektive' Beobachter von außen darstellen können, jemals von den Konfliktparteien akzeptiert würde. Schon allein die Tatsache, von außen zu kommen, stärkt in diesem Kontext keinesfalls die Legitimation. Denn natürlich gibt es immer eine Wahrheit, die nur jemand kennt, der dabeigewesen ist. Oder, wenn vielleicht nicht eine Wahrheit – denn Tatsachen sind Tatsachen –, so doch die moralische Signifikanz dieser Tatsachen, die nur einer, der dabeigewesen ist, ganz verstehen kann.

Das Problem einer von allen geteilten Wahrheit ist auch, daß sie nicht etwa ,dazwischen' liegt. Sie ist kein Kompromiß zwischen zwei konkurrierenden Versionen. Entweder war die Blockade von Sarajevo ein bewußter Versuch, eine legal gewählte Regierung eines international anerkannten Staates zu terrorisieren und zu untergraben, oder es war ein Akt legitimer, vorausschauender serbischer Verteidigung eines muslimischen Angriffs auf ihr Land. Sie kann nicht beides gewesen sein.

Auch die Akzeptanz einer Auffassung vom gemeinsamen Leid kann nicht gleich die Grundlage einer gemeinsamen Wahrheit schaffen. Es ist relativ einfach für beide Seiten, das Leid der jeweils anderen anzuerkennen. Viel schwieriger, und in der Regel tatsächlich unmöglich, ist die gemeinsame Anerkennung des hauptsächlichen Verursachers dieses Leids durch alle Beteiligten.

Eine tragende Rolle in den hier diskutierten Identitäten spielen die Erzählungen über die Verbrechen der anderen Seite. Serben der Bergregion Foca in Bosnien erzählten im Sommer 1992 britischen Journalisten, daß ihre Miliz das Gebiet von Muslimen hätte säubern müssen, da eine wohlbekannte Tatsache sei, daß Muslime serbische Kinder gekreuzigt und sie in den Fluß geworfen hätten, dessen Strömung sie an serbischen Dörfern vorbeigeführt habe. Da solche Legenden keine Tatsachenbeweise brauchen, um weitererzählt zu werden, läßt sich kaum hoffen, sie durch Aufklärung mittels Fakten aus der Welt schaffen zu können. Diese Legende ist beispielsweise schon bekannt aus dem Mittelalter, als man Juden dieses Verbrechens bezichtigte. Es stimmte damals nicht über die Juden und stimmt heute nicht über die Muslime – aber das macht keinen Unterschied.

Täter entwickeln ihre eigene Verteidigung gegen die Wahrheit, aber Opfer auch. Wer sich als Opfer einer Aggression sieht, entwickelt eine durchaus verständliche Unfähigkeit zur Kenntnisnahme von Verbrechen durch die eigene Seite. Auch Unschulds- und Opfermythen sind ein schwerwiegendes Hindernis für die Kenntnisnahme unangenehmer Tatsachen.

Solche Erzählungen in den Bereich von Mythen zu verbannen, bedeutet nicht, daß die eine Seite vermutlich mehr Opfer ist als die andere, und auch nicht, Verbrechen in Frage zu stellen. Ihre mythische Qualität besteht darin, daß diese Verbrechen als wesentliche Enthüllung der eigentlichen Identität des Volkes angesehen werden, in dessen Namen sie begangen wurden. Der Verbrechensmythos geht von der Annahme aus, ein bestimmtes Volk habe prinzipiell die Neigung, Genozid an den anderen verüben zu wollen. Alle Mitglieder der entsprechenden Gruppe werden dieser Neigung beschuldigt. Die Vorstellung einer Kollektivschuld hängt ab von der Annahme einer nationalen Psyche oder rassischen Identität. Die Fiktion, die hier am Werke ist, hat große Ähnlichkeit mit dem nationalistischen Wahn, daß die Identität des einzelnen seiner nationalen Identität untergeordnet ist oder sein sollte.

Nationen jedoch sind nicht wie Individuen. Sie haben nicht nur eine Identität, ein Gewissen oder eine Verantwortung. Nationale Identität ist ein Raum von Konflikt und Diskussion, kein stummer Altar für kollektive Götzendienste. Selbst autoritär-populistische Demokratien wie Serbien und Kroatien sprechen nie mit nur einer Stimme oder erinnern an die Vergangenheit mit nur einem Gedächtnis. Die elementare Rolle der Gerechtigkeit im Dialog zwischen Wahrheit und Versöhnung ist, daß sie Individuum und Nation auseinanderdividiert, die Zerstörung der Fiktion also, Nationen seien wie Individuen verantwortlich für Verbrechen, die in ihrem Namen begangen worden sind.

Die wichtigste Rolle von Kriegsverbrecherprozessen ist die ,Individualisierung' von Schuld. Karl Jaspers drückte dies aus Anlaß der Nürnberger Prozesse 1946 so aus: „Für uns Deutsche hat dieser Prozeß den Vorteil, daß er zwischen den besonderen Verbrechen der Führung unterscheidet und nicht uns Deutsche kollektiv verurteilt.“

In Analogie zu Nürnberg sollen die Prozesse von Den Haag also nicht Serben, Muslime oder Kroaten auf die Anklagebank setzen, sondern vielmehr die Verbrecher von der Bevölkerung trennen und Schuld dorthin verteilen, wo sie hingehört: auf die Schultern des einzelnen. Und dennoch müssen die Prozesse natürlich versagen, da nicht alle Schuld ihre Abnehmer findet in denen, die schuldig geworden sind. Die Kleinen zahlen für die Verbrechen der Großen, und dies stärkt den Glauben, daß Gerechtigkeit nicht eindeutig, sondern nur zufällig sei.

Und solche Prozesse lösen den Zusammenhang zwischen Individuum und Nation nicht auf. Nürnberg hat dies nicht zustande gebracht: Die ganze Welt hält weiterhin die Deutschen für kollektiv verantwortlich – und die Deutschen selbst akzeptieren diese Verantwortung auch. Höchstens kann man sagen, daß Kriegsverbrecherprozesse dazu beitragen, ein Volk von der Last der Fiktion einer Kollektivschuld zu befreien, indem es Schuld in Scham verwandelt. Genau das scheint in Deutschland geschehen zu sein. Der deutsche Schriftsteller Martin Walser schrieb einmal, daß, wenn ein Franzose etwa Bilder von Auschwitz sähe, „er nicht denken [müsse]: wir Menschen! Er kann denken: diese Deutschen! Können wir denken: diese Nazis! Ich jedenfalls kann es nicht...“ Das bedeutet, daß die meisten Westdeutschen ein und dieselbe Version über ihre Vergangenheit akzeptieren. Sie nehmen die Verantwortung an in dem Sinne, daß sie die Vergangenheit als beschämend empfinden – und in diesem Maße deshalb auch glauben, daß sie nicht wiederkehren kann.

Dennoch ist durchaus nicht klar, ob es die Nürnberger Prozesse waren, die die Haltung der Deutschen verändert haben. Ian Buruma hat in seinem Buch „The Wages of Guilt“ darauf hingewiesen, daß viele Deutsche Nürnberg als „Siegerjustiz“ ablehnten. Es waren nicht die Nürnberger Prozesse, sondern die von der deutschen Justiz geführten Kriegsverbrecherprozesse der sechziger Jahre, die die Deutschen zur Konfrontation mit ihrem Anteil am Holocaust gezwungen haben.

Die Aufarbeitung der Vergangenheit war zudem nicht auf Kriegsverbrecherprozesse beschränkt. Hinzu kamen millionenfache Schülerbesuche in ehemaligen Konzentrationslagern, Tausende von Büchern, die Hollywoodserie „Holocaust“ – eine große, in vielen Einzelheiten und von vielen einzelnen vorgenommene Abrechnung zwischen den Generationen, die bis heute anhält.

Das deutsche Beispiel zeigt, daß man nur bescheidene Ansprüche stellen sollte an das, was durch Kriegsverbrecherprozesse erreicht werden kann. Der große Vorteil gerichtlicher Prozesse ist, daß sie zu Beweismaterial machen, was sonst lediglich angreifbare Tatsachenbehauptungen wären, und ihm damit Legitimität verleiht. In diesem Sinne erschweren Kriegsverbrecherprozesse einer Gesellschaft, sich auf Verleugnung und Abwehr zurückzuziehen. Die Prozesse helfen bei der Entdeckung der Wahrheit. Zweifelhafter ist schon, ob sie beim Prozeß der Versöhnung helfen können.

Die reinigende Funktion der Justiz trifft meist nur auf die Seite der Opfer zu, nicht auf die der Täter. Während die Opfer aufatmen in dem Gefühl, daß der Gerechtigkeit Genüge getan wurde, fühlt sich die Gruppe, aus der sich die Täter rekrutierten, unter Umständen nur zum Sündenbock gemacht. Das einzige, was man mit Sicherheit behaupten kann, ist, daß die Nichtbestrafung von Kriegsverbrechern noch schlimmer ist. Der Teufelskreis der Straflosigkeit bliebe intakt und würde der Gesellschaft erlauben, in Verleugnung und Abwehr zu verharren.

Ob Gerechtigkeit oder Wahrheit wirklich heilende Kräfte sind, ist eine offene Frage. Zwar gilt der allgemein anerkannte Glaubenssatz, daß Erkenntnis, vor allem Selbsterkenntnis, eine Bedingung für psychische Gesundheit ist. Gesellschaften – auch unsere eigene – scheinen jedoch mit einem relativ geringen Maß an Wahrheit über ihre Vergangenheit ganz gut zurechtzukommen.

Einzelne Menschen mögen an der Verdrängung ihrer Vergangenheit krank werden. Damit ist aber noch nicht bewiesen, daß auch für ganze Gesellschaften gelten muß, was für Individuen gilt. Eine Gesellschaft wie die serbische, in der international als Kriegsverbrecher geltende Männer höchste Ämter bekleiden dürfen und vor der Auslieferung an internationale Tribunale geschützt werden, mag uns unsympathisch sein. Deshalb ist sie noch lange keine kranke Gesellschaft. Denn solche Gesellschaften halten sich umgekehrt sogar für besonders gesund, da sie sich den ungeheuerlichen Versuchen der Außenwelt, ihre Helden zu Kriminellen zu machen, geschlossen widersetzen.

Alle Gesellschaften sind mit ihren Helden psychologisch eng verbunden. Die Entdeckung, daß ihre Helden sich als Kriegsverbrecher schuldig gemacht haben, bedeutet, daß auch die Identitäten, für deren Erhalt man zusammen gekämpft hat, dadurch vergiftet sind – weshalb Gesellschaften oft nur sehr zögernd ihre eigenen Mitglieder an Kriegsverbrecherprozesse ausliefern. Es ist auch einer der Gründe dafür, daß sie so vehement an der Leugnung von Tatsachen festhalten, die für jeden von außerhalb evident sind. Kriegsverbrecherprozesse fordern auf kollektiver Ebene die moralische Identität fast aller Mitglieder einer Gruppe heraus. Wenn Identität gefährdet ist, ist die Abwehr tatsächlich nur eine Verteidigung von allem, was einem lieb und teuer ist.

Es gibt viele Formen von Abwehr. Das reicht von der unumwundenen Weigerung, Fakten als Fakten zur Kenntnis zu nehmen, bis zu komplizierten Strategien der Relativierung, bei denen man zunächst die Fakten akzeptiert, dann jedoch erklärt, daß der Gegner ebenso schuldig sei, die beschuldigende Partei ebenfalls Verantwortung trüge oder daß solche „Exzesse“ in Kriegszeiten bedauerlich, aber notwendig seien. Wer relativiert, will beides: sich den Tatsachen stellen und die Verantwortung für sie ablehnen.

Widerstand gegen historische Wahrheiten ist eine der Funktionen von Gruppenidentität: Nationen und Völker binden ihr Selbstgefühl in narzißtische Geschichten ein, die sich jeder Korrektur hartnäckig entziehen. Auch Regierungen sind für ihre Legitimierung auf historische Mythen angewiesen, die sich gegen Wahrheiten gründlich abschotten. Die Legitimität von Titos Regime in Jugoslawien hing ab vom Mythos seiner Partisanen als Bewegung des nationalen Widerstands gegen die deutsche und italienische Besatzung. In Wirklichkeit kämpften die Partisanen gegen ihre Landsleute ebenso heftig wie gegen die Besatzer und arbeiteten sogar mit den Deutschen zusammen, wenn ihnen das Vorteile gegen die heimischen Gegner verschaffte. Da jeder Jugoslawe der Kriegsgeneration von diesen Begebenheiten wußte, mußte der Mythos von Bruderschaft und Einheit ständig von der Propaganda neu erfunden und verstärkt werden.

Was aber soll man daraus ableiten? Daß Regime, die sich auf historische Mythen gründen, zerbrechen, sobald die Wahrheit ans Licht kommt? Oder daß Titos Mythos eine notwendige Fiktion war, die einzige Lüge, die die vielen ethnischen Traditionen Jugoslawiens in einem Staat zusammenhalten konnte? Wieviel Wahrheit hätte das Nachkriegsjugoslawien ertragen, bevor es in einem Bürgerkrieg zerbrochen wäre?

Die Tragödie Jugoslawiens ist vielleicht nicht so sehr, daß der herrschende Mythos von Bruderschaft und Einheit die Geschichte des Bürgerkriegs zwischen 1941 und 45 falsch wiedergab, sondern daß es der Mythos der Kommunistischen Partei war – einer Partei, die zu einer späteren, friedlich-demokratischen Entwicklung unfähig war. Demokratie aber ist eine Bedingung für den freien Zugang zu historischen Daten und einer offenen Diskussion ihrer Bedeutung. Und davon hängt die Schaffung einer öffentlichen, gemeinsamen Wahrheit ab. Der Balkankrieg von 1991 bis 95 war die Fortsetzung des Bürgerkriegs von 1941 bis 45. Konkurrierende Versionen der historischen Wahrheiten – serbische, kroatische, muslimische –, die in Titos Jugoslawien keine friedliche, demokratische Chance auf Anhörung hatten, begaben sich erneut aufs Schlachtfeld, um sich als einzige Wahrheit durchzusetzen. Der Erfolg von fünf Jahren Krieg ist, daß eine gemeinsame Wahrheit jetzt noch unvorstellbarer ist. Unter den Bedingungen ethnischer Teilung und autoritärem Populismus (eine Verbindung, die in allen größeren Nachfolgestaaten von Titos Jugoslawien herrscht) ist eine gemeinsame Wahrheit – und damit ein Weg von der Wahrheit zur Versöhnung – versperrt. Er ist nicht nur versperrt durch Haß, sondern auch durch Institutionen, die nicht demokratisch genug sind, um konkurrierende Wahrheiten überhaupt zur Diskussion zuzulassen.

Die Wahrheit der Kriegsverbrecherprozesse in Den Haag hat wenig Chancen, die Glasglocke zu durchstoßen, unter der die jugoslawischen Nachfolgestaaten liegen. Damit soll nicht ihre Bedeutung geschmälert werden. Vielmehr ist der Punkt hier, daß man Gerechtigkeit getrennt von Versöhnung sehen muß: Recht ist Recht und soll innerhalb der engen Grenzen, in denen das möglich ist, gesprochen werden. Recht dient auch der Wahrheit – aber damit wird die Wahrheit nicht unbedingt auch glaubhaft und sollte daher nicht zusätzlich mit der Hoffnung belastet werden, daß sie heilen könne.

Wenn es um Heilung geht, ist man mit dem mysteriösesten aller Vorgänge befaßt. Denn was man im früheren Jugoslawien, in Ruanda und Südafrika sieht, scheint zu bedeuten, daß die Vergangenheit weiter quälend ist, eben weil sie nicht vergangen ist. Man lebt dort nicht in einer chronologischen Zeit, sondern in einem Simultan, in dem Vergangenheit und Gegenwart beständig zusammenfließen aus Phantasien, Verdrehungen, Mythen und Lügen. Reporter des Balkankriegs haben mehrfach erzählt, daß sie, wenn man ihnen von Verbrechen berichtete, sie oft nicht wußten, ob, was sie hörten gestern oder 1941 oder 1841 oder 1441 geschehen war. Für die Erzählenden war damals und heute dasselbe.

Als Joyce seinen Stephen Daedalus auf den ersten Seiten des „Ulysses“ sagen läßt, daß die Vergangenheit ein Alptraum sei, von dem die Iren sich bis heute aufzuwachen bemühten, dann bedeutet das genau dies: Wie im Alptraum sind Vergangenheit und Gegenwart nicht auseinanderzuhalten. Und man kann hinzufügen, daß es sich hier um die Traumzeit der Vergeltung handelt. Verbrechen sind nicht in eine gesicherte historische Vergangenheit eingebunden und bleiben dadurch – nach Rache lechzend – ewige Gegenwart.

Joyce sah, daß in den Identitäten beider Seiten, des irischen Nationalismus wie des Ulsterprotestantismus, die Vergangenheit nie ganz vergangen war. Ihre Leichname waren nie ganz begraben, sondern bevölkerten als Untote die Träume der Lebenden und riefen nach Vergeltung. Das Mythische – und damit Giftige – an der Vergangenheit von Gesellschaften, die durch Bürgerkrieg oder Rassenkonflikt zerrissen sind, ist, daß diese Vergangenheit keineswegs vergangen ist.

Das macht den Prozeß der Aufarbeitung von Vergangenheit und Versöhnung mit all der dazugehörigen Schmerzhaftigkeit sehr viel komplizierter, als es in dem einfachen Akt der Trennung von Fakten und Fiktionen, von Wahrheit und Lüge aussieht. Es bedeutet vielmehr eine Durcharbeitung auf der tiefen Ebene innerpsychischer Realität, so daß der Alptraum der Simultaneität schließlich von einem Gefühl chronologischer Zeit abgelöst werden kann.

Wir wissen von Opfern traumatischer Erlebnisse, daß diese geheimnisvolle innere Arbeit der Psyche äußerst mühselig ist. Am Anfang kehrt die Erinnerung des Traumas – ein Autounfall, der Tod eines Kindes oder Elternteils – derart häufig zurück, daß die Gegenwart buchstäblich aus dem Bewußtsein vertrieben wird. Das Opfer lebt in der Vergangenheit und erleidet seine Schmerzen in beständiger Wiederholung. Nach einiger Zeit, voll von Grübeln und Gesprächen, verläßt das Trauma die Ebene der Gegenwart und nimmt seinen Platz in der Vergangenheit ein. Damit kann auch der Schmerz langsam weniger werden. Was Alptraum war, wird zur bloßen Erinnerung. In diesem langsamen Prozeß der Wiedereinsetzung der Ordnung einer chronologischen Zeit wacht der Leidende, so könnte man sagen, wieder auf und öffnet sich dem Momentum des Lebens.

Von traumatisierten Individuen auf ganze Gesellschaften zu schließen ist gefährlich. Von Gesellschaften zu sprechen, die von ihrem Alptraum aufwachen, ist lediglich eine einigermaßen extravagante Metapher. Das einzige Aufwachen, von dem zu sprechen Sinn macht, ist das der einzelnen, einer nach dem anderen, in den Tiefen ihrer eigenen Identität. Genaugenommen können sich Nationen nicht mit Nationen versöhnen, sondern nur Menschen mit Menschen. Aber diesem einzelnen kann durch öffentliche Rituale des Sühnens bei Heilung und Versöhnung geholfen werden.

Mit seinem Fernsehauftritt, bei dem er sich bei den Opfern von Pinochets Regime entschuldigte, schaffte der chilenische Präsident Patricio Alwyn ein öffentliches Klima, das Tausenden solch einen Akt privater Reue und Entschuldigung möglich machte. Er reinigte damit auch symbolisch den chilenischen Staat von seiner Assoziation mit den Verbrechen. Der Kniefall des damaligen deutschen Kanzlers Willy Brandt in Warschau hatte eine ähnliche Wirkung, indem er den deutschen Staat offiziell mit einem Prozeß der Sühne assoziierte.

Diese Handlungen stehen in starkem Kontrast zum Verhalten der politischen Figuren, die für den Balkankrieg verantwortlich sind. Hätte sich Präsident Franjo Tudjman von Kroation, statt Bücher zu schreiben, in denen er an den offiziellen Opferzahlen von Jasenovac herumdoktert, sich zu diesem Ort des berüchtigsten kroatischen Vernichtungslagers begeben und sich für die Verbrechen der kroatischen Ustascha gegen Serben, Zigeuner, Juden und Partisanen öffentlich entschuldigt, hätte er damit die kroatische Gegenwart aus dem Griff ihrer Ustaschavergangenheit befreit. Er hätte damit auch dramatisch die Wahrscheinlichkeit eröffnet, daß die serbische Minderheit die Legitimität eines unabhängigen kroatischen Staates akzeptiert.

Hätte er die Eiterbeule der Vergangenheit aufgeschnitten, wäre es 1991 vielleicht nicht zum Krieg gekommen. Er hat das, wie man weiß, nicht getan, weil er meinte, daß die Serben genauso viele Verbrechen gegen die Kroaten begangen haben. Manchmal jedoch ist eine Geste der Sühne nur wirkungsvoll, eben weil sie sich über die Verbrechen gegen die eigene Seite einmal hinwegsetzt.

Gesellschaften und Nationen sind nicht wie einzelne Menschen. Aber die Individuen, die in der Gesellschaft die politische Autorität haben, können einen großen Einfluß auf eben jenen mysteriösen Prozeß haben, durch den die Menschen sich mit der schmerzhaften Vergangenheit ihrer Gesellschaften aussöhnen können.

Die Erfahrung des Krieges in Jugoslawien macht es schwer, sich die Versöhnung, falls sie je möglich wird, in solchen Klischeebegriffen wie „Vergeben und vergessen“, „Das Kapitel schließen“, „Die Vergangenheit hinter uns lassen“ usw. vorzustellen. Die unglaubliche Heftigkeit und das Ausmaß des Krieges zeigt uns die Hohlheit solcher Klischees. Versöhnung jedoch könnte sich eines Tages auf etwas viel Stärkeres gründen: die Demokratie der Toten, die Gleichheit aller Opfer, das drastische Bild von der Nichtigkeit aller Kämpfe, die in Mord und fruchtloser Rache für die Vergangenheit an der Gegenwart enden.

Michael Ignatieff lebt als Fernseh- und Buchautor in London. Er arbeitet zur Zeit an einer Biographie des Philosophen Isaiah Berlin.