■ Schlagloch
: Lieber reich und gesund Von Christiane Grefe

Der Reporter: „Eine Zwei- Klassen-Medizin?“ – Der Experte: „Warum nicht?“

Aus einem Interview

im „Stern“

Unter Managern, so berichtet das Handelsblatt, gilt medizinische Prävention als das „moderne Statussymbol aus der Bonusliste für Führungskräfte“. Besonders beliebt: die „Reise ins Ich“, die ein Diagnostikzentrum in Hamburg offeriert. Der gestreßte Verantwortungsträger genießt sie im gepflegten Ambiente des Hotel Steigenberger. Fachärzte testen ungefähr jede seiner Körperfunktionen einmal durch, für 1.800 Mark plus 800 Mark für die psychosomatische Beratung. Dazu kommt gegebenenfalls der Preis des Hotelzimmers, von dem aus man „mit dem Aufzug gleich in die Untersuchungsräume fahren kann“. Doch am Geld soll die Sache nicht scheitern. Viele Firmen zahlen den Kontrollgang komplett, einige legen sogar noch den Preis „für das Check-up der Ehefrau“ drauf – muß doch die Gattin „bei notwendigen Änderungen im Lebensstil ohnehin einbezogen werden“. Toll! Vorbeugen ist besser als ausfallen. Und Manager sind schließlich schwer ersetzbar.

Das läßt sich von der Mehrheit der Lohnempfänger in diesen Zeiten leider nicht sagen. Es quälen sie zwar die gleichen Macken, die man bei jedem zweiten Manager festgestellt hat: vegetative Beschwerden, Probleme mit der Wirbelsäule oder dem Fettstoffwechsel, Befindlichkeitsstörungen. Ihnen aber kürzt im Modellfall das gleiche Unternehmen demnächst die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall weg. Und es treibt sie auf diese Weise dazu an, „auch wenn ich krank bin lieber doch nicht krank zu sein“, wie es eine alleinerziehende Mutter formuliert – also trotzdem zur Arbeit zu gehen, und zwar je knapper das Einkommen und je größer die Familie, desto eher. Vorbeugung kann man das eher nicht nennen.

Zugegeben, das war jetzt Klassenkampf for beginners. Tatsächlich ist auch wer wenig oder gar nichts verdient medizinisch so gut versorgt wie noch nie. Und doch hängt die Gesundheit nach wie vor vom sozialen Status ab. Ärmere haben zum Beispiel mehr Bronchitis, mehr Bandscheibenschäden und sterben früher. Solche Fakten haben noch vor ein paar Jahren öffentlich Nachdenklichkeit erzeugt und das Bemühen um mehr gezielte Gesundheitsvorsorge. Übrigens auch bei manchen Unternehmen, die als „Verhältnisprävention“ gemeinsam mit den Krankenkassen wirkungsvoll Arbeitsbedingungen verbesserten. Doch die totale Vermarktwirtschaftlichung des Denkens und das konzeptionslose Strampeln gegen die Gesundheitskostenlawine diskriminieren solches Bemühen heute, ohne daß sich Sachargumente ändern, als lächerlich und naiv, ja, verschwenderisch – bis die Solidarität allmählich ganz aus dem Blickfeld verschwindet. Und zwar mit Nachtreten.

„Warum nicht?“ – nur ein Beispiel dafür ist die Antwort des Sozialstatistikers Walter Krämer auf die Frage nach der Zwei-Klassen- Medizin, kokett dahingesagt wie „Campari – was sonst?!“. Denk positiv und sag ja zum sozialen Gefälle – dann hast du auch keine Probleme mehr damit, reichlich mehr Selbstbeteiligung einzuklagen. Nicht nur ihre Zahnreparaturen also sollten die Leute nach Krämers Ansicht „vollständig aus eigener Tasche zahlen“. Dann haben sie eben „gute oder schlechte Zähne“ – na und? –, „so wie sie auch einen Mercedes oder Polo fahren“. Als ließe sich Gesundheit, Zähne, Lunge oder Leber, mechanisch wie ein neuer CD-Player konsumieren.

Gewiß wollen viele – und zwar in allen sozialen Schichten! – tatsächlich „20.000 Mark fürs Auto, aber keine 5.000 Mark für ihre Zähne“ ausgeben. Doch es gibt eben auch, und immer öfter, Menschen, die für beides das Geld nicht haben. Noch wird ihnen geholfen. Aber Herr Krämer findet, daß in Zukunft ausschließlich dann, wenn es „um Leben und Tod geht, der Geldbeutel keine Rolle spielen darf“. Wofür man ihm aber noch dankbar sein muß, denn an sich deutet er einen frühen Tod längst als den sozialverträglichsten, weil preiswertesten Akt. Der medizinische Fortschritt mache zwar alt, aber nicht gesund – und damit alles nur immer teurer. Soll es neue Behandlungsmethoden also bald nur noch für Barzahler geben?

Ach, diese tapferen „Tabubrüche“ und mediengerecht verkürzten „Provokationen“ mit Gewöhnungseffekt. Mit Hilfe solch spekulativer Mißbrauchsrhetorik bombardiert eine unheilige Allianz aus hektischen Sparwütigen, Ideologen des Wer-krank-ist-ist-selbst- Schuld sowie Exreformern auf Selbstbezichtigungstrip echte Errungenschaften – und schafft ein soziales Klima mit immer kälteren Temperaturen, in dem man, so ein AOK-Funktionär, „allmählich ganz locker über Selektion zu reden beginnt, natürlich ohne das so zu nennen. Wer kriegt noch die Dialyse, die neue Hüfte – und wer nicht?“ Der, der sie sich leisten kann, allemal.

Noch sind wir nicht soweit, daß der Chefarzt am Krankenbett eines 80jährigen ethische mit wirtschaftlichen Erwägungen vermengen muß. Noch denkt er, auch bei knappem Budget, darüber nach, ob die OP wohl sinnvoll, statt ob sie noch drin ist. Doch das Rechnen dringt immer tiefer in den Behandlungsalltag vor. In Münchner Unikliniken etwa sind Mediziner angewiesen, Ambulanzpatienten, die keinen Versicherungsnachweis parat haben, nur noch in Notfällen aufzunehmen – es sei denn, sie zahlten einen Vorschuß. Das ziele auf Touristen, heißt es. Doch manche Ärzte befürchten eher, daß sie auch „die Ärmsten und Fertigsten“ wegschicken sollen, die „Asylbewerber, Obdachlosen, hilflosen Alten und Patienten in psychischen Krisen“, bei denen es nach der Therapie immer den lästigen Finanzkrieg mit dem Sozialamt gibt.

Keine Frage: Ärzte müssen mehr Kostenbewußtsein entwickeln. Und Patienten mehr Eigenverantwortung. Doch erst eine kluge Gesundheitsvorsorge versetzt sie – gerade in den ärmeren Schichten – in die Lage, mit ihren immer häufiger chronischen Krankheiten Diabetes, Rheuma, Sucht oder Allergien so zu leben, daß langfristige, viel teurere Medikamentenbehandlung und Operationen unnötig werden. Wieso gilt diese Einsicht nur für die Manager im Hotel Steigenberger?

Vor allem fiele jede Spareinsicht leichter, würde endlich nicht mehr nur da gespart, wo der Widerstand am geringsten ist, sondern an den viel dickeren Posten auf der Gesundheitsrechnung: An High-Tech-Diagnostik, die gar keine therapeutischen Konsequenzen mehr nach sich zieht; unnötigen, zu teuren Medikamenten; zu langen Krankenhausbehandlungen. Doch statt dessen streichen sie gerade, kaum daß das Sparpaket durch ist, schon wieder die nächsten Leistungen. Irgendwie, hier eine, da eine. Wisch und weg.