Das Kapital schwappt über die Grenzen

■ Weltweit 40 Prozent mehr Auslandsinvestitionen als im Vorjahr

Hamburg (taz) – Und Lenin hatte doch recht. Die Globalisierung nimmt in dramatischem Tempo zu. So sprangen die Auslandsinvestitionen 1995 weltweit um 40 Prozent in die Höhe. Daran beteiligt waren zwar 39.000 transnationale Unternehmen (TNC), aber allein auf die Top 100 entfällt ein Drittel des globalen Kapitalstocks. Dies ist nicht das Resümee aus Lenins Imperialismus, sondern aus dem diesjährigen World Investment Report der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (Unctad). Er wurde gestern im Hamburger Weltwirtschaftsarchiv (HWWA) und auf 51 weiteren Pressekonferenzen der Weltöffentlichkeit vorgestellt.

315 Milliarden US-Dollar wurden allein im vergangenen Jahr weltweit im Ausland investiert. Der transnationale Kapitalstock stieg auf 2.700 Milliarden US-Dollar. Erstmals hätten damit die Investitionen den Handel übertrumpft, so die Unctad. Der Umsatz, der aus Auslandsbeteiligungen entstanden sei, ist größer als der gesamte Welthandel. Auf 6,1 Billionen Dollar schätzt ihn Unctad-Mitarbeiter Jörg Weber.

Globalisierung ist mittlerweile die rhetorische Allzweckwaffe zur Begründung schlechter Nachrichten. Arbeitsplätze würden darob exportiert, der Standort Deutschland sei ohnehin gefährdet und der Bundeshaushalt müsse gesundgespart werden. Aber nicht alle Ökonomen akzeptieren dies als Alibi. Insgesamt profitiere Deutschland von ihr, so analysierte kürzlich eine Studie des Hamburger Weltwirtschaftsarchivs.

Die Verteilung des gewonnenen Volkseinkommens sei Aufgabe der nationalen Politik, nicht der Multis, so die Position der Wissenschaftler. Nach ihrer Einschätzung überwiegen die positiven Auswirkungen jedoch die negativen. Bedenklich sei allerdings die gewaltige Konzentration: 39.000 transnationale Unternehmen sind am Weltinvestment beteiligt, aber allein auf die Top 100 entfällt ein Drittel des globalen Kapitalstocks. Getragen wird die Globalisierung hauptsächlich von den Industrieländern untereinander, und aus dem Blickwinkel des alten Kontinents ist die Globalisierung nur eine Europäisierung. Selbst die USA tätigen qualifizierte Investitionen, etwa in Telekommunikation oder Chemie, mit Vorliebe in good old Europe. Lediglich Japan orientiert sich machtvoll auf sein asiatisches Umland. Immerhin, seien erstmals über 100 Milliarden Dollar in die Entwicklungsländer geflossen, so tröstet der Unctad- Report – ein Boom allerdings, der sich auf nur zehn Länder in Asien und Lateinamerika beschränkt.

Hauptgewinner ist die Volksrepublik China: 38 Milliarden wurden dort investiert. Der gesamte Kontinent Afrika mußte sich derweil mit fünf Milliarden Dollar begnügen – das ist weniger als in Malaysia.

Auslandsinvestitionen bedeuten dabei keineswegs immer wachsende Märkte, neue Fabriken und Büros. Seit 1985 verdoppelten sich die Aufkäufe von Unternehmen. Hierauf entfällt etwa die Hälfte aller Direktinvestitionen. Allein für die Übernahme von Mehrheitsbeteiligungen wurden 135 Milliarden Dollar aufgewendet, sagte Weber. Am teuersten Deal war ein Frankfurter Konzern beteiligt: Über sieben Milliarden Dollar blätterte Hoechst für Marion Merrel Dow hin. Der Standort Deutschland erwarb Vertrauen zurück: Über neun Milliarden Dollar flossen herein – der höchste Zufluß in den Neunzigern. Dabei befinden wir uns erst am Anfang der Globalisierung. Auch 1996 werden die Auslandsinvestitionen wieder um etwa 40 Prozent wachsen.

Was aber, wenn am Ende viele Millionen verschwundene Arbeitsplätze zu beklagen sind, nicht nur in Bonn und Bottrop, sondern auch in Bangkok und Brazzaville? Solche Bedenken nährt die IG Metall. In allen von deutschen Investitionen betroffenen Ländern verminderte sich mehr oder weniger die Metallbeschäftigung, ermittelte die Gewerkschaft. Hermannus Pfeiffer