Beschreiben Sie den Weg

In Frankfurt wurden für Spielbergs Shoah-Projekt Interviewer geschult. Ein Teilnehmer berichtet  ■ Von Michael Westphal

Drei dichtgedrängte Tage über den Holocaust. Wer hält das aus? Die über 120 ausgewählten Teilnehmer einer Trainingssession der durch Steven Spielberg ins Leben gerufenen Survivors of the Shoah Visual History Foundation (taz vom 30.3. 1995), die Anfang September im Frankfurter „Ökohaus“ abgehalten wurde, mußten diese Hürde überspringen, um danach als Interviewer für die Stiftung tätig zu werden. Sie sind Lehrer, Journalisten, Psychologen. Eine grundsätzliche „Neigung zur Melancholie“ verbinde sie mit der Holocaust-Problematik, so eine Teilnehmerin aus Hannover, der nachhaltige Eindruck, den der Film „Schindlers Liste“ hinterließ, hat einen anderen bewogen, hierher nach Frankfurt/Main zu kommen. Einige geben sich im Laufe der Veranstaltung selbst als Überlebende zu erkennen.

Vorsichtige Kontaktaufnahme

Beim morgendlichen Check-in im bizarren Gebäude vis-à-vis dem Frankfurter Westbahnhof, vorbei an smarten, aber dadurch nicht weniger auffälligen Männern eines angeheuerten Security-Service, werden die ersten zaghaften Kontakte geknüpft. Erste Kritik an organisatorischen Mängeln wird geäußert, Befindlichkeiten ausgetauscht. Teilnehmer erhalten eine verschwindend kleine Aufwandsentschädigung von 50 Dollar pro Interview inklusive aller zugehörigen Formalitäten. Arche Noah heißt das kleine Café, das im Ökohaus beherbergt ist. Am Ende der komplizierten technischen Aufbereitung der Videotapes, einem für spätere Generationen angelegten Weltarchiv, steht ein Computerinterface, das durch ein Stichwortverzeichnis gezielt aktiviert und mit einem einfachen Mausklick gesteuert werden kann. Derzeit können etwa 12.000 Einzelbegriffe abgerufen werden: von Auschwitz- Birkenau über Todesmärsche bis hin zu Zagreb oder Zugtransport.

Um diesen Schlagwörterzugriff zu ermöglichen, wird vor jedem Interview ein zäher, fast 40seitiger Fragebogen unter Mithilfe des Überlebenden ausgefüllt, um festzuhalten, in welchem Ghetto dieser gegebenenfalls Zwischenstation gemacht hat oder an welchem Ort die Befreiung erlebt wurde. Die Zahl der Schlagwörter soll in absehbarer Zeit anwenderfreundlich reduziert werden. Auf einer Bildschirmseite können synchron historische Daten abgerufen, Landkarten oder Dokumentaraufnahmen eingespielt und gleichzeitig die O-Töne des Befragten abgehört werden.

„Fragen Sie, wie es ihm geht“

Viele brechen nach über 50 Jahren erstmalig vor laufender Kamera ihr Schweigen. Die Frankfurter Schulung ließ keinen Zweifel daran, wie anspruchsvoll und schwierig diese Aufgabe für die Interviewer sein würde. „Fragen Sie beim Wechsel der Videokassette, wie es dem Überlebenden geht, bedanken Sie sich nach dem Interview für das Erzählen der Geschichte. Rufen Sie am nächsten Tag an und erkundigen Sie sich nach dem Wohlbefinden“, waren die Ratschläge der Initiatorinnen. Die Befragungen dauern meist mehrere Stunden.

Fundierte historische Kenntnisse über den Antisemitismus, das jüdische Leben und dessen generalstabsmäßiger Vernichtung seien unumgängliche Voraussetzungen für die Mitarbeit an Spielbergs Visualisierungsprojekt, so Diana Weisman, Forschungsbeauftragte im Zentralbüro in Los Angeles. Offene Fragen, die auf die Wiedergabe eines Vorgangs, die Beschreibung eines Orts oder eines Wegs zielen, helfen den Befragten, bei der Schilderung ihrer Geschichte voranzukommen. So soll man beispielsweise nicht fragen: „Kamen Sie mit dem Zug ins Lager?“, sondern: „Beschreiben Sie den Weg ins Lager.“

„Wie hätten Sie sich denn gefühlt?“

Fragen, die sich auf die damaligen Gefühle beziehen, sind grundsätzlich tabu. Der Überlebende könnte zurückfragen: „Wie hätten Sie sich dabei gefühlt?“ Um die eigenen Gefühle auf dieser ständigen Gratwanderung besser zu verarbeiten, empfiehlt die Mitarbeiterin der Shoah-Foundation ihren zukünftigen Interviewern, ein gesondertes Tagebuch anzulegen und mit Freunden und Angehörigen über die gemachten Erfahrungen während der Interviewertätigkeit zu sprechen. Der Persönlichkeitsschutz des Überlebenden dürfe dabei niemals vergessen werden. Die aus dem gesamten deutschsprachigen Raum angereisten Teilnehmer taten gut daran, sich die zahlreichen, eher weniger gelungenen Filmausschnitte von bereits Befragten genau einzuprägen. Der Leitfaden zur Interviewtechnik stammt im wesentlichen aus der Gesprächstherapie.

Bei Problemen: Jessica rufen!

Kleinere Übungseinheiten bestimmten den zweiten und dritten Tag der Schulung. Wer sich hier gehandicapt zeigte und die eingebleuten Standards versäumte, also etwa selten Augenkontakt aufnahm oder einfach das Seminargeschehen zurückhaltend begutachten wollte, der dürfte kaum mit einer Zusage der Shoah-Foundation rechnen.

Die präsentierten Videosequenzen gaben einen Einblick, wie unterschiedlich die Überlebenden ihre Geschichte erzählen. Einigen scheint jedes Wort nur schwer von den Lippen zu kommen. Sie wirken angespannt, verziehen keine Miene und sprechen monoton. Andere zeigen sich vom ersten Augenblick an gelöst und scheinen die eingeschaltete Kamera vergessen zu haben.

Und immer wieder hieß es: „If there are any problems, call Jessica!“ Gemeint ist Jessica M., die mit ihrer Kollegin Nina G. im Frankfurter Satelliten der Foundation sitzt. Im Notfall rufen sie Psychologen und Ärzte zur Hilfe.

Manche Ausschnitte aus den vorgeführten Videos hinterließen den grotesken Eindruck, daß der Interviewer über die damaligen Verhältnisse besser Bescheid wußte als der Zeitzeuge. Die oral history sei im Gegensatz zur herkömmlichen Historiographie imstande, „mit voller Wucht zurück in die Zeit und die Orte von damals“ zu versetzen, so ein Historiker, der mit der Digitalisierung des Projekts befaßt ist. Die visualisierte Geschichtsschreibung, wie sie die Shoah-Foundation verstehe, memoriere die „Geschichte der Opfer“ und gebiete deshalb eine „Identifikation mit ihrer Menschlichkeit, ihrem Leiden“.

Nicht selten brechen die Befragten bei der Schilderung traumatischer Erlebnisse – vor allem, wenn es um den Tod von Angehörigen geht – in Tränen aus oder verharren plötzlich in bedrückendem Schweigen. „Niemand kann so ein Schweigen ertragen. Sie müssen es aber, zeigen Sie, daß Sie das können“, erging die Aufforderung der Trainerin Darlene Basch. Wie man mit solchen Momenten umgeht, wurde im Laufe der dreitägigen Schulungsveranstaltung mehrfach und kontrovers diskutiert. Nachdem die entsprechenden kulturellen Normen zwischen den USA und Europa beiseite gelassen wurden, einigte man sich darauf, daß diese Momente unverzichtbarer Bestandteil des Interviews seien, die auf keinen Fall durch den Interviewer kommentiert werden dürften.

Es sei eine unangebrachte Indezenz, so Darlene Basch, den Überlebenden in schmerzlichen Augenblicken zu trösten oder ihn gar mit der Hand zu berühren, denn das versetze ihn in das Jahr 1996 zurück. Vielmehr sei zu vermitteln, daß „alles in Ordnung“ sei, ohne jedoch die Kamera abzustellen. Wann das zu geschehen hat, kann ausschließlich der Überlebende bestimmen.

Das eigene Leben hinter sich lassen

Unterdessen rief das in Frankfurt vorgeführte sehr effektvolle Präsentationsvideo der Shoah-Foundation den Unmut einiger Teilnehmer hervor. Dort wurde reichlich Gebrauch gemacht von Filmausschnitten mit tränenüberströmten Gesichtern von Holocaust-Überlebenden (mit deren Einverständnis), die überdies mit pathetischer Musik unterlegt waren. Die Simultanübersetzerin sprach an dieser Stelle denn auch aus Versehen von „Hollycaust“ statt Holocaust.

Höhepunkt der praktischen Übungen war ein Gespräch mit Holocaust-Überlebenden, die die Prozedur eines Interviews bereits hinter sich gebracht hatten. Überlebende, die ohnehin in der Öffentlichkeit stehen, regelmäßig vor Schulklassen sprechen oder etwa im Auschwitz-Komitee mitwirken. Das Gespräch verlief als eine Art Staffellauf: Alle zehn Minuten wechselten sich die Interviewer ab.

Die Entscheidung, in den nächsten Monaten tatsächlich Interviews durchzuführen, hat sich die Spielberg-Stiftung für jeden einzelnen Bewerber noch vorbehalten. Nicht wenigen Teilnehmern wird diese Bedenkzeit gelegen kommen, um selbst noch einmal zu überdenken, ob sie tatsächlich ihr „eigenes Leben hinter sich lassen können“ (Carol Stulberg), wenn sie mit einem Überlebenden des Holocaust zusammentreffen.

Die Foundation ist in Frankfurt/ Main unter Tel. 069/724400 zu erreichen.