Schrebergarten zum Wochenende

Noch immer anders als „draußen“, viel Haschisch, ein anderer Begriff von Normalität. Dennoch: Die Spontanität ist weg am 25. Geburtstag von Kopenhagens alternativem „Freistaat“ Christiania  ■ Aus Christiania Reinhard Wolff

Ein Traktor mit Anhänger, darauf drei Männer in blauen Arbeitsanzügen, fährt langsam durch die Straßen des sonst autofreien Christiania. Sven aus Deutschland, Thomas aus England und Julian aus Rumänien schaffen den Müll weg. Eine schwere Arbeit, weil man sich immer noch nicht zu „normalen“ Mülltonnen durchringen konnte, sondern blecherne Ölfässer hochgestemmt werden müssen. Und die können gefüllt an die 50 Kilo wiegen. Die drei arbeiten in der „Maschinenhalle“, sind unter anderem für die Müllabfuhr zuständig und seit Jahren aktive „Christianiter“.

Wohnen? Nein, nicht in Christiania. Vergeblich haben sie bislang versucht, Platz in einem Haus zu finden. „Es ist bestimmt leichter, ins Parlament gewählt zu werden, als in Christiania eine Wohnung zu kriegen“, flachst Thomas, obwohl er das eigentlich gar nicht so lustig findet. Selbst wenn man hier eine für die Gemeinschaft wichtige Arbeit ausführt, handwerkliche Qualifikationen hat – eines der begehrten Häuser zu bekommen, heißt dies noch lange nicht.

Früher war das anders, früher war das auch mit der Müllabfuhr anders. Da lief dies unter „freiwilligem“ Arbeitseinsatz, und jeder, der in Christiania wohnen wollte, mußte einmal ran. Jetzt leistet man sich „Gastarbeiter“, die draußen in Kopenhagen wohnen und knapp zehn Mark für diese Drecksarbeit bekommen. Christiania – nichts anderes mehr als eine etwas exotische und billige Art zu wohnen, ohne noch Pflichten für die Gemeinschaft wahrnehmen zu müssen? „Ja, viele beschränken sich darauf, ihre 880 Kronen Hausmiete (rund 220 Mark) an die Gemeinschaftskasse zu zahlen, ihre geregelte Arbeit draußen in Kopenhagen zu haben und ansonsten hier nur noch zu wohnen. Es gibt richtige Klassenunterschiede zwischen Reich und Arm hier“, klagt Thomas.

Auch Sven, vor Jahren aus Begeisterung für Christiania von Deutschland nach Kopenhagen gekommen, ist frustriert, immer noch nicht in Christiania wohnen zu können: „Dabei stehen eine Masse von Räumem faktisch leer, weil ihre Besitzer mittlerweile Wohnungen in Kopenhagen haben und für sie Christiania nur noch so etwas wie der Schrebergarten fürs Wochenende ist. Das ist schwer zu regeln, wenn dein Gegenspieler nicht mehr wie früher Polizei, Staatsmacht und Gesellschaft sind, sondern dein künftiger Nachbar.“

Der Bruch, so meint er, kam, als das dänische Parlament Christiania 1989 formal legalisierte und das Gesetz über den Freistaat Christiania verabschiedete. „Irgendwie ist das natürlich phantastisch“, bringt Tine Schmedes vom Christiania-Informationsbüro „Neues Forum“ den Zwiespalt auf den Punkt. „Früher mußten wir in ständiger Furcht leben, daß die Polizei versuchen würde, uns hier herauszuwerfen. Was aber auch Grundlage für einen viel spontaneren Lebensstil war. Jetzt wächst doch sehr die Versuchung, seine Seele dem kleinbürgerlichen Leben und den kapitalistischen Verlockungen zu verkaufen. Aber ich hoffe immer noch, daß wir auch mit unserer Legalisierung klarkommen und trotzdem die Fahnen hochhalten können.“ Was vor 25 Jahren als Aufruhr gegen die erstickende Ordentlichkeit des kleinbürgerlichen Dänemarks begonnen hatte, ist tatsächlich so etwas wie ein Staat im Staate geworden. Eine kleine Gemeinde, die jährlich einige Millionen zur Selbstverwaltung hat, an den Staat „draußen“ Steuern und Abgaben für Wasser und Strom zahlt und sich im wesentlichen an dessen Gesetze hält, von Bauvorschriften bis zur Ausschenkgenehmigung für Alkoholika.

Morten Kristiansen ist einer von denen, die der halben Million TouristInnen jährlich Christiania zeigen. Für eine informative Führung durch den Freistaat bezahlen sie 20 Kronen. Für Kristiansen sind die drei Kindergärten ein Beispiel dafür, was in Christiania noch immer besonders ist. Die haben nicht nur viel niedrigere Gebühren, sondern sind auch personell weit besser ausgestattet, als es ansonsten in Kopenhagen üblich ist.

Die Werkstätten, die in der Aufbauphase in Christiania entstanden waren, gibt es zum großen Teil noch. So die Bäckerei, die als eine der ersten in Kopenhagen ökologisches Brot im Angebot hatte, und die für die „Pedersen“-Räder bekannte Fahrradwerkstatt. Von letzterer ist aber nur ein schmucker Laden übriggeblieben, der auch Mountainbikes der üblichen Marken verkauft. Die „Pedersen“-Räder werden außerhalb Christianias produziert. Und auch die „Schmiede“ bietet mittlerweile ordentliche Arbeitsplätze und hat feste Angestellte und Löhne.

Tata aus Italien, der im vegetarischen Restaurant „Morgenstedet“ gerade einen Kaffee trinkt, ist froh über das Umdenken nach der Legalisierung: „Es ist doch schön, wenn 25 Jahre Knochenarbeit und stetiger Kampf mit den Behörden zu Ende sind. Der Kampf um unsere Selbständigkeit kann jetzt endlich von einer kulturellen Periode abgelöst werden, wo Christiania seine Kräfte auf kreative Ausdrucksformen verwenden kann. 20 Jahre habe ich damit verbracht, mein Haus in Ordnung zu bringen und eine Schuhmacherwerkstatt aufzubauen. Jetzt möchte ich mehr Zeit für andere Werte, Kunst und Kultur, haben.“

Die Meinungen, ob das, was die von allen gewählte Kontaktgruppe beim jahrelangen Bemühen um eine Legalisierung Christianias geleistet hat, ein Ausverkauf aller alternativen Werte oder die einzige Möglichkeit war, den Freistaat wirklich auf die Beine zu stellen, gehen weit auseinander. Alfred Dam, jahrelanges Mitglied der Selbstverwaltung, ist froh, daß die Zeit der grundsätzlichen Konflikte vorbei ist: „Es war da eine unglaubliche Berührungsangst von uns Christianitern und ein grundsätzlicher Kollisionskurs der Behörden, die nur mit dem Gesetzbuch unterm Arm herumliefen.“

Laila Rehnberg, „Gegenspielerin“ Dams im Rathaus von Kopenhagen, sieht das ganz ähnlich: „Unser Ziel war, daß man sich dort einigermaßen im gesetzlichen Rahmen bewegte, deren Ziel, in Ruhe gelassen zu werden. Jetzt haben wir, glaube ich, eine ganz gute Balance gefunden.“ Das scheinen auch die DänInnen insgesamt so zu sehen – in einer aktuellen Meinungsumfrage bekundeten sie zum 25. Geburtstag des Freistaates soviel Symphathie wie nie zuvor. 58 Prozent wollen, daß Christiania weiterbesteht, nur 28 Prozent sind dagegen. Vor 20 Jahren waren diese Zahlen genau umgekehrt.

Und dies, obwohl das Drogenproblem, das Christiania seit seiner Gründung begleitet hat, nach wie vor ungelöst ist. Vom späten Vormittag bis in die Nacht hinein geht auf der Pusher-Street wie immer der offene Handel mit Cannabis vor sich. Die KundInnen, nicht nur aus Kopenhagen, sondern aus ganz Skandinavien und Deutschland, erkundigen sich nach den Tagespreisen für Standardmarokkaner, Pollenmarokkaner und Afghanen – und kein Polizist stört sie dabei.

Fast vier Jahre liegt der letzte ernsthafte Versuch von Polizei und Staatsanwaltschaft zurück, wirklich etwas gegen den Haschisch- Handel zu unternehmen. Auch durch politischen Druck aus dem Ausland erzwungen, vor allem aus Schweden und Norwegen, wo Kopenhagen als skandinavischer Haupthandelsplatz für Drogen aller Art gilt. Eine Spezialtruppe von 70 Polizisten versuchte damals durch ständige Präsenz die Aktivitäten auf der Pusher-Street – schätzungsweise für 50 Millionen Mark wird hier jährlich umgesetzt – zu stören. Das Resultat, eine Eskalation von Gewalt und Unruhe in ganz Kopenhagen, ließ den Justizminister nach einigen Monaten einen Schlußstrich unter die Aktion „drogenfreies Christiania“ ziehen. Und dabei ist es seither geblieben. Die ChristianiterInnen selbst haben es wiederum recht gut geschafft, harte Drogen von der Pusher-Street fernzuhalten.

Mehr als die Hälfte der knapp 1.000 EinwohnerInnen von Christiania ist auf Sozialhilfe oder andere öffentliche Unterstützung angewiesen – für den sozialdemokratischen Kommunalpolitiker Poul Ovist Jörgensen kein Grund, den Daumen nach unten zu drehen: „Eigentlich ist es unglaublich, daß Christiania nicht in viel höherem Maße Verlierer unserer Gesellschaft angezogen hat – mit weit schlimmeren sozialen Konsequenzen.“ Kommt ein Christiania-Veteran wie Ole Slik, seit 1971 dabei, mit seinem Alkoholproblem nicht klar, zahlt die Gemeinschaftskasse ihm die Entziehungskur. Und der bald 60jährige, der nach eigener Einschätzung „jetzt unter der Erde wäre, hätte ich nicht vor einem Jahr die Flasche geschmissen“, fühlt sich „wie in einer zweiten Jugend“.

„Wir haben hier eben eine Mehrheit von Leuten, die in einer ,normalen‘ Gesellschaft nicht funktionieren würden“, sagt Hula Mader von der Christiania-Kontaktgruppe: „Wir haben weitergefaßte Grenzen für das, was ,normal‘ ist, so daß Leute, die ,draußen‘ schlechte Erfahrungen gemacht haben, sich hier gut aufgehoben fühlen.“

Ole Slik kann im „Woodstock“, Christianias ältestem Gasthaus und Musiklokal, jetzt schon ab morgens um neun frühstücken. 1971, erinnert er sich, als das Musical „Der explodierende buddhistische Tankwagenfahrer findet neue Wege aus dem elektrischen Hochspannungsleitungsdschungel auf dem Weg die Himalaya-Berge hinauf“ aufgeführt wurde, öffnete keine Kneipe vor der Mittagszeit. Jetzt sitzen die ersten beim Frühstück, lesen Zeitung, und Cannabis- und Kaffeeduft vermischen sich. Über die von TouristInnen noch nicht gefüllten Straßen geht es zurück nach Kopenhagen. Durch ein Tor mit einem Schild: „Du betrittst jetzt die EU“.