„Betrogen worden ist einzig das russische Volk“

■ Wladimir Priblilowski, Vorsitzender der „Bewegung Njet“, über die Wahl Jelzins, die Unterstützung durch die Regierungen des Westens und mögliche Zukunftsszenarien

Der Historiker und Politologe Wladimir Priblilowski ist Präsident des Moskauer Forschungszentrums Panorama. Seine „Bewegung Njet“ hatte die Wähler vor der Stichwahl am 3. Juni dazu aufgefordert, gegen die beiden Präsidentschaftskandidaten Boris Jelzin und Gennadi Sjuganow zu stimmen.

taz: Der Westen hat sich die Unterstützung für Jelzin im Wahlkampf einiges kosten lassen. Jetzt stellt sich heraus, daß der Präsident so krank ist, daß er vielleicht abtreten muß. Da sind die Herren Clinton und Kohl ja ganz schön über den Tisch gezogen worden, oder?

Wladimir Priblilowski: Was heißt über den Tisch gezogen worden? Der US-Geheimdienst hat doch gewußt, wie schlecht es schon damals um Jelzin stand. Und auch die anderen westlichen Regierungen hatten diese Informationen. Doch davor hat der Westen genauso die Augen verschlossen wie vor der Tatsache, daß Jelzin kein Demokrat ist und seinen Wahlkampf mit zweifelhaften Methoden geführt hat. Betrogen worden ist einzig und allein das russische Volk.

Wenn der Westen die Wahrheit über Jelzins Gesundheitszustand kannte, macht die Unterstützung, besonders die finanzielle, doch keinen rechten Sinn ...

Der Westen hat völlig konsequent gehandelt. Es ging den westlichen Regierungschefs doch nur darum, ihre egoistischen Interessen zu wahren; sie wollten auf jeden Fall den Sieg des Kommunisten Sjuganow verhindern. Daher Unterstützung für Jelzin um jeden Preis. Dabei spielte es keine Rolle, ob der Wahlkampf fair oder ein Kandidat kurz vor dem Ende war. Wenn es um Rußland geht, wendet der Westen eben doppelte Standards an. Was er bei sich zu Hause ablehnt, nimmt er im Falle Rußlands hin. Über den Gesundheitszustand des Staatschefs sollten nun mal alle informiert sein. Bei uns ist das nicht so. Doch für den Westen ist die Hauptsache, daß eine russische Führung bequem ist.

Ist sie vielleicht gar nicht, wenn Jelzin bald abgelöst werden muß.

Der Westen hat im Grunde genommen jetzt das gleiche Problem wie Anfang diesen Jahres. Vorgezogene Neuwahlen werden immer wahrscheinlicher. Und die westlichen Regierungen haben ein Interesse daran, daß Regierungschef Victor Tschernomyrdin gewinnt. Sie werden ihn unterstützen, weil sie wieder keine andere Alternative sehen. Allerdings – auch Tschernomyrdin ist schon älter, und gesundheitliche Probleme hat er ebenfalls.

Wie könnten denn die Szenarien für die nächste Zeit aussehen?

In Rußland stehen sich zwei einander bekämpfende Lager gegenüber, auf der einen Seite die herrschende Oligarchie, auf der anderen Seite ein potentieller Tyrann: General Alexander Lebed. Der Kreis um Tschernomyrdin ist jetzt aber auf Neuwahlen nicht vorbereitet und hat Angst, daß Lebed die Wahlen gewinnen könnte. Deshalb ist es für Tschernomyrdin und seine Leute notwendig, Jelzin solange wie möglich zu halten. In dieser Zeit werden sie versuchen, Lebed zu kompromittieren oder darauf zu warten, daß er sich selbst kompromittiert.

Wenn Jelzin jetzt sterben würde, könnten sie versuchen, das zunächst zu verheimlichen. Lange geht das natürlich nicht. Die andere Variante und für Tschernomyrdins Lager die bessere: Jelzin überlebt die Operation, in Wahrheit regiert aber Tschernomyrdin. Und das bis zum Jahr 2000. Interview: Barbara Oertel