Flucht aus der Profilnische

Managerhotel oder Hort der Künste? Die Zukunft des Festspielhauses Hellerau in Dresden ist unklar. Bloß nostalgisch mag man's nimmer  ■ Von Henry Altmann

Begibt man sich aus Dresdens Tal nach dem Dorfe Hellerau hinauf, so kündet dort zunächst nichts von großer Historie. Der Besucher findet ein Dorf vor, klein, weiß gestrichene Häuschen. Diese entstanden 1909, als der Möbelfabrikant Karl Schmidt die „Garten- und Produktionsstadt Hellerau“ erbauen ließ, um seinen Arbeitern bessere Wohn- und Produktionsbedingungen zu ermöglichen. Weil der Mensch aber nicht vom Brot allein lebt, wurde wenig später ein Festspielhaus für die Kunst hinzugefügt.

Verläßt man die Hauptstraße, so gibt der Schmuck gepflegten Kleinbürgertums zur Linken plötzlich den Blick auf die moderne Variante eines antiken öffentlichen Platzes frei. Und mittendrin erhebt sich in klarer Linienführung das Festspielgebäude. In ihm nahm der damals 35jährige Architekt Tessenow wesentliche Elemente des Bauhausstils vorweg. „Das Laboratorium einer neuen Humanität“ gar sah der Tanzpädagoge Dalcroze, Begründer der Rhythmikschule Hellerau, hier verwirklicht. Unter den argewöhnischen Augen der 1913 rund 2.000 Einwohner wird „das rhythmische Dorf“ zum Mekka jugendbewegten Lebens gegen die Überfremdung der Industriegesellschaft.

Das Festspielhaus ward innerhalb dreier Jahre errichtet, sein Ruf aber dauert. Auch nach dem Ersten Weltkrieg pilgern wieder viele auf den Heller, in den Annalen finden wir den Adelskalender der klassischen Moderne : Mary Wigman und Diaghilew, Shaw, Claudel, Sinclair, Rilke, Werfel, Kafka, Le Corbusier, Max Reinhardt, Nolde und Strawinsky. Allerdings wird bereits mehr der Mythos der Vorkriegszeit als ein künstlerisch noch maßgebliches Kulturzentrum visitiert. 1937 schließlich verkommt die Ikone der Moderne zu einer Kaserne der faschistischen Reaktion. Als das braune Regime vom roten abgelöst wird, dient der Komplex als Lazarett und das Festspielhaus als Turnhalle zur Ertüchtigung sowjetischer Soldaten. Obgleich Hellerau in diversen Büchern zur Kunst- und Theatergeschichte weiterhin herumgeistert, verschwindet es real aus dem Bewußtsein.

Vom Kommunismus verlassen, vom Konsumismus erobert, soll Hellerau 40 Jahre später zum „flughafennahen Managerhotel“ mutieren. Einen transitorischen Ort der ganz anderen Art zu begründen, ist hingegen bereits seit 1988 das Ziel eines Häufleins Kunstschaffende. Johannes Odenthal, Carsten Ludwig, Detlev Schneider oder Misolette Bablet wollen das Festspielhaus Hellerau reanimieren. Allerdings soll hier keine runderneuerte Semperoper entstehen. Die Wiederherstellung von Gebäuden und Gelände müsse „sich aus der künstlerischen Arbeit heraus ergeben“ (Detlev Schneider). Ein Lieblingskind restituierender Kulturförderung bildet Hellerau somit nicht. Dennoch hat das Arbeiten mit dem Mythos allerhand Fördergelder fließen lassen. Obzwar diese oft für Rekonstruktionsmaßnahmen festgeschrieben sind, versuchen die Betreiber, jeden Pfennig in den künstlerischen Betrieb zu stecken. „Wir nehmen uns im Moment eben noch heraus, bestimmte Dinge einfach abzulehnen. So eine Haltung ist nicht nur nicht ungefährlich, sie ist regelrecht gefährlich angesichts des erschreckenden Aufweichens der kulturellen Institutionen“, sagt hierzu Wanda Reichardt, gewesene Untergrundgaleristin und gegenwärtig Inhaberin einer der sieben ABM-Stellen. Hellerau – das Gegenmodell also zur Restitution barocker Herrlichkeit im Gesamtmuseum Dresden? Oder doch das stallgehaltene Vorzeigestück sich progressiv rühmender Kulturförderung? Wo das Ideal kulturpolitischen Schaffens Berechenbarkeit und Wiederherstellung vergangener Glorie heißt, wird Kunst nicht mehr als Prognose einer ungewissen Zukunft gelitten. Gefragt ist risikominimierende Unterhaltung mit gewinnmaximierendem Lächeln.

Der Name bürgt aber allemal noch für Aufmerksamkeit. So stapeln sich die Anfragen von Kulturschaffenden aller Couleur. Mal tritt der Verein nur als Vermieter auf (wie unlängst beim Theater der Welt), mal in Koproduktionen wie der „Edda“ von Wolfgang Storch. Neben Ausstellungen und Konzerten wird aber auch mit Eigenproduktionen aufgewartet, beispielsweise Carsten Ludwigs Inszenierung eines Textes von Hans Joachim Schädlich: „Mal sehen, was noch kommt“. Von den früher jährlich stattfindenden Kunstfesten ist man nunmehr zur ganzjährigen Bespielung übergegangen.

Die Politik der Hellerau-Betreiber bewegt sich dabei zwischen kulturpolitisch anerkannter Sanierung eines Mythos und mitunter scheeläugig betrachteten Produktionen. Einerseits gilt es, künstlerisches Profil zu zeigen. Dafür bedarf es Fördergelder, die sich mit einem berühmten Namen natürlich leichter auftreiben lassen. Zum anderen will man aber gerade die Profilnische des Hellerau-Mythos vermeiden. Wanda Reichardt sieht Hellerau zwar als ein ästhetisch vorgeprägtes Gelände, ihre Funktion aber keinesfall darin, dessen Historie aufzuarbeiten. „Die Künstler haben eher das Problem, daß sie sich wie magisch dazu berufen fühlen, wieder und wieder diese Geschichte zu reflektieren, was manchmal etwas nervt.“

So ist es schwer, die Schatten der Vergangenheit zu fliehen, vor allem, wenn diese durch eigenes Zutun noch heraufbeschworen werden. Als das bürgerlich-höfische Publikum 1913 unten in der Semperoper Richard Strauss' „Rosenkavalier“ goutierte, gab sich oben auf dem Heller die Avantgarde Europas zu Dalcrozes „Orpheus und Eurydice“ ein Stelldichein. Am 29. September wird drunten im Albertinum eine große Kokoschka-Ausstellung eröffnet. Als beabsichtigten Kontrapunkt hierzu inszeniert Alfred Hrdlicka in Hellerau ein wüstes Epos (wagt man, es Theaterstück zu nennen?) des jungen Kokoschka: „Mörder, Hoffnung der Frauen“. Bei der Uraufführung sorgte das Werk 1909 in Wien, 1917 in Dresden und 1922 mit Hindemiths Bühnenmusik in Stuttgart für einen Skandal. Ob sich ein solcher in dieser alles eingemeindenden Zeit wiederum einstellt, ist fraglich.

Aber die Tradition der Häuser bleibt jedenfalls gewahrt: unten im Elbflorenz die hochoffizielle Eröffnung in Anwesenheit des österreichischen Bundespräsidenten mit Prominenz und Champagner, oben auf dem Heller Kokoschkas „exzessives Wortgemälde“ der anderen Art mit der Bolschewistischen Kurkapelle Rot-Schwarz und Wodka. Ach, reanimierte Konvention, könnte man sich doch wie damals fühlen!