Palästinenser fordern internationale Intervention

■ Israels Netanjahu versprach Sicherheit und Frieden. Seine Politik bringt nun Tote

Palästinensische Proteste gegen die „Judaisierung Jerusalems“, Schußwechsel zwischen israelischen Soldaten und palästinensischen Polizisten, eine bis gestern nachmittag stündlich steigende Zahl von Toten und Verletzten. Angesichts dieser dramatischen Ereignisse am Ende der ersten hundert Tage Netanjahu-Regierung stellen viele Israeli die Frage: Ist dies der Beginn einer neuen, gefährlicheren Intifada oder nur ein Zwischenspiel im seit Monaten festgefahrenen Friedensprozeß?

Schon am Mittwoch, gleich nach den ersten Schußwechseln zwischen israelischem Militär und palästinensischen Demonstranten und Polizisten in Ramallah und an der nördlichen Stadtgrenze Jerusalems, nahm die US-amerikanische Regierung Kontakte zu Jassir Arafats Autonomieregierung in Gaza und den israelischen Behörden in Jerusalem auf. Jitzhak Molcho, der persönliche Vertreter Netanjahus, und der Chef des israelischen Geheimdienstes (Shabak), Ami Ajalon, eilten zu einem Besuch bei Arafat nach Gaza. Und Verteidigungsminister Jitzhak Mordechai drängte in einem langen Telefongespräch mit dem Präsidenten der Autonomieverwaltung, die palästinensischen Polizeieinheiten und Fatah-Aktivisten müßten beruhigt und weitere Zusammenstöße in Ostjerusalem, dem Gaza-Streifen und der Westbank verhindert werden.

Einfacher gesagt, als getan: Alles weist darauf hin, daß der von der neuen Regierung versprochene, aber real nicht stattfindende Friedensprozeß, zusammen mit provokativen Schritten wie dem Bau neuer Siedlungen, die palästinensische Bevölkerung aufgebracht hat. In dieser Situation reichte schon ein kleiner Funke wie die von den Palästinensern abgelehnte Fertigstellung eines Tunnels von der Klagemauer in das muslimische Viertel der Jerusalemer Altstadt, für die Explosion.

Arafat hat zwar am Mittwoch den ersten begrenzten Protestdemonstrationen gegen das „Verbrechen der Judaisierung Jerusalems“ seine Unterstützung gegeben. So konnte er seine Position stärken und die Kritik vieler Palästinenser an seiner Verhandlungspolitik mit Israel entschärfen. Aber die Frage ist jetzt, ob Arafat die Eskalation auf den Straßen so beeinflussen oder aufhalten kann, wie er es vielleicht möchte. Gestern gab er seiner Polizei den Befehl, alle Kämpfe einzustellen. Aber allem Anschein nach wird die Anordnung nur zum Teil befolgt.

In Israel befürchtet man jetzt die Verselbständigung radikaler palästinensischer Gruppen, um so mehr, als die Gruppe „Islamischer Heiliger Krieg“ bereits vor einigen Tagen erneute Anschläge in Israel angekündigt hat.

Abu Mazen, Nummer zwei in der palästinensischen Hierarchie, der am Mittwoch zum Krisenmanagement mit Roni Milo, dem Likud-Bürgermeister von Tel-Aviv, zusammentraf, meint, daß jetzt nur noch ein internationales Eingreifen infrage kommt, um weitere Kampfhandlungen zu vermeiden und den Friedensprozeß vor dem totalen Zusammenbruch zu retten. Angesichts des rasch um sich greifenden Feuers hat Israels Staatspräsident Ezer Weizman seinen ägyptischen Kollegen Hosni Mubarak um eine Intervention bei den Palästinensern gebeten. Der jordanische König Hussein rät den Israeli dringend, den Tunnel in Ostjerusalem sofort zu schließen.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verkürzte seinen Besuch in Bonn, um eine Lösung für die erste ernste Krise seiner Amtszeit zu finden, und bat Arafat vor seinem Abflug telefonisch, sich für eine Beruhigung der Lage einzusetzen. Immerhin handelt es sich um den schärfsten Konflikt mit den Palästinensern seit Beginn des Friedensprozesses 1993. Anstatt „Sicherheit und Frieden“, die Netanjahu seinen Wählern versprach, sieht sich der Ministerpräsident als Resultat seiner Politik mit einer Entwicklung konfrontiert, die seinem Volk das Gegenteil bringt: Tote. Amos Wollin, Tel Aviv