Die U-Bahn als neues Herz der Kunststadt

Heute startet die U 1 nach Norderstedt-Mitte: 223 Millionen Mark für verkehrspolitischen Fortschritt und den Traum der Vier-Dörfer-Gemeinde, eine richtige Stadt zu werden  ■ Von Florian Marten

Das Maßband ist sauber gezogen, die Wasserwaage gibt Entwarnung – die grauen Betonsteine vor dem Eingang der funkelnagelneuen U-Bahnstation Norderstedt können verlegt werden. Noch bei Redaktionsschluß dieser Ausgabe legten Bauarbeiter letzte Hand an eines der größten Verkehrsprojekte der vergangenen Jahre. Heute um 10.45 Uhr jedoch, wenn die SPD-Regierungs-ChefInnen Heide Simonis (Schleswig-Holstein) und Henning Voscherau (Hamburg) gemeinsam ein Band im U-Bahnhof Garstedt durchschneiden, wird sie blitzblank und fertig sein: Die 2.760 Gleismeter lange U-Bahnstrecke von Garstedt über Richtweg nach Norderstedt Mitte, ins Herz von Deutschlands mit 692 Fahrzeugen je EinwohnerIn autoreichster Stadt.

Verkehrspolitischer Fortschritt zum satten Komplettpreis von 223 Millionen Mark: Umsteigefrei im 10-Minuten-Takt nach Hamburg, dazu ein völlig neu gestricktes Buskonzept, das mit erweitertem Fahrtenangebot und Anschlußsicherung den neuen Endbahnhof der U 1 in einen Verkehrsknotenpunkt verwandelt. Auch die AKN, ab heute um fast drei Kilometer Streckenlänge beraubt, kann zufrieden sein: Die 7,6 km nach Ulzburg-Süd sind zweigleisig ausgebaut, der Umstieg in die U 1 erfolgt künftig am selben Bahnsteig. Norderstedts Bürgermeister Wilhelm Petri sprüht vor Optimismus: „Für uns ist das ein großer Schritt nach vorn.“

Wenn der geschmückte Zug der U 1 um 11.20 Uhr in das proppere Klinker-Stahl-Glas-Gebäude der nagelneuen Station Mitte einrollt, wird auch Volker Hallwachs, Chef der Stadtwerke Norderstedt, Freude und Genugtuung empfinden. Gegen Widerstände aus Bonn, Hamburg, Garstedt und die Zeitläufe bekommt Norderstedt eine U-Bahn zu einer Zeit, wo Hamburg seinen U-Bahn-Bau endgültig eingestellt hat. Norderstedt-Mitte, ein erst wenige Jahre junges Stadtzentrum auf der grünen Wiese, erhält die Chance, wirkliches Herz einer Stadt zu werden, auf deren Gebiet in den 50er Jahren keine 30.000 Menschen wohnten, die im Jahr 2000 aber wohl schon über 80.000 Einwohner haben wird.

Volker Hallwachs gehört zu jener kleinen Schar von Menschen, die im Schatten gescheiterter großer Visionen ein Kunstwerk vollbringen durften, was wenigen vergönnt ist: Eine neue Stadt schaffen. Mittlerweile 13.000 Wohnungen und gut 10.000 Arbeitsplätze in Rathaus, Geschäften, Verwaltungen und Büros, alle brav in Klinker, nur wenige Geschosse hoch und erst jüngst entstanden, bilden Norderstedt Mitte, das Zentrum jener Kunststadt, die erst 1970 am grünen Tisch der Verwaltungsreformer aus vier Gemeinden geschaffen wurde.

Zwar ist die Stadtbücherei im schicken Rathaus-Forum großzügig ausgestattet, zwar wachsen die Bäumchen auf den breiten Alleen langsam zu wirklichen Bäumen heran, zwar glänzt der fesch gepflasterte Rathausmarkt mit einem eigenen Umwelt-Rat-Haus, einem Pavillon für Umweltberatung – doch noch ist Norderstedt Mitte ziemlich tote Hose. Daran ändern auch neckische Straßennamen nur wenig, wie beispielsweise die Straße „Beamtenlaufbahn“, welche die Stadtwerke-Zentrale mit dem Rathaus verbindet. Die leicht sterile Klinkertristesse soll ab heute von neuem Leben durchpulst werden.

Norderstedts bisheriges klammheimliches Zentrum am U-Bahnhof Garstedt, das schlauchförmige Herold-Center mit aufgesetzten Wohntürmen in tristem 60er-Jahre-Design, soll dann endlich Stadtfunktionen nach Norden abgeben. Ex-Bürgermeister Horst Embacher spricht diplomatisch von einer „zweipoligen Stadt“. Die Chancen stehen gut: Weitere 10.000 Wohnungen werden in den nächsten Jahren Norderstedts neuer Mitte weiteres Gewicht verleihen. Aus dem muffigen Herold-Center, dessen Management die U-Bahn-Verlängerung lange Zeit heftig bekämpfte, will man Geschäfte abwerben. Behörden, Ärzte, das fesche Spaßbad Arriba und vor allem der Clou, den gesamten Busverkehr zum neuen U-Bahn-Endpunkt zu führen, werden die Menschen zwangsläufig dorthin schaufeln, wo die Planer sie haben wollen.

Der 28. September 1996 ist so ein entscheidendes Datum für Norderstedt, einem der ganz wenigen deutschen Beispiele für eine „geglückte Verwaltungsreform“, wie Volker Hallwachs selbtbewußt anmerkt. Die verrückte Idee, aus den ehemaligen Dörfern Garstedt, Harksheide, Friedrichsgabe und Glashütte eine eigene Stadt zu basteln, hatte allerdings ganz andere Wurzeln. Sie war Teil jener gigantischen Entwicklungsplanung, mit der in den 60er Jahren sozialdemokratische Visionen die Stadtregion Hamburg zu einer gigantischen Hochhaus-Metropolis aufpeppen wollten.

Eine Stadt mit Rollbürgersteigen und Luftkissenstadtfahrzeugen, Eine-Million-Tonnen-Tankern und Hochhauszentren in allen vier Himmelsrichtungen (nur die City Nord wurde gebaut), die ihre Energie aus AKWs bezieht (Brunsbüttel, Brokdorf, Stade, Krümmel) und sich entlang von „Entwicklungsachsen“ krakenartig ins Umland frißt. Neben der Unterelberegion, die zum „Ruhrgebiet des Nordens“ emporsteigen sollte – realisiert wurden nur die Reviere Brunsbüttel und Stade sowie das Schwerindustriekonglomerat zwischen Harburg und Finkenwerder – galt das Hauptaugenmerk der Achse Langenhorn – Kaltenkirchen.

Endpunkt dieser Achse sollte der Großflughafen Kaltenkirchen sein, als „Knoten“ auf dieser „Achse“ war Norderstedt ausgeguckt. Im schon Mitte der 60er Jahre projektierten Norderstedt-Mitte sollten die Flughafen-Schnellbahn und die Hamburger U-Bahn zusammentreffen. 1984, der Traum vom Großflughafen war noch nicht ganz ausgeträumt, einigten sich Hamburgs Stadtchef Klaus von Dohnanyi (SPD) und Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Uwe Barschel (CDU) in einer Rahmenvereinbarung auf den Bau der U-Bahn.

Daß sie heute wirklich kommt, ist jedoch ein kleines Wunder: Als der Flughafen Kaltenkirchen ad acta gelegt wurde und Hamburg seine einst hochfliegenden U-Bahn-Ausbaupläne endgültig beerdigte, stand plötzlich alles zur Disposition: Einstellung der AKN, allenfalls noch eine Spurbustrasse auf der stillgelegten Bahn. Dann wollte Bonn keine Zuschüsse zahlen und auch Hamburgs Hochbahn-Manager zeigten sich bei den ersten Gesprächen mit Volker Hallwachs äußerst reserviert: „Die wollten erst nicht glauben, daß wir das Projekt wirklich ernst meinen.“

Stadtplanerin Christiane Thalgott, die ihre Karriere als Leiterin der Arbeitsgruppe Norderstedt-Mitte begann, freut sich: „Der David Norderstedt hat seine Eisenbahnplanung gegen den Goliath Hamburg erfolgreich hinter sich gebracht.“ Stadtchef Petri denkt schon weiter: Er sieht die U 1 bereits auf einer elektrifizierten AKN-Strecke nach Ulzburg flitzen – sogar eine Verlängerung der U 1 nach Neumünster ist denkbar.