Kinderkrankheiten als Chance?

■ Anthroposophische Ärzte halten sich bei Impfungen zurück. Homöopathische Kügelchen schützen nur bedingt

„Wer sagt denn, daß die sogenannten Kinderkrankheiten ausgerottet werden müssen?“ Für Dr. Harald Matthes, den leitenden Arzt im anthroposophisch ausgerichteten Krankenhaus Berlin- Havelhöhe, sind Krankheiten nicht unbedingt ein Übel. Sie können auch „eine nichtlineare Entwicklung im biologischen System“ anzeigen. Sind Kinderimpfungen unsinnig, womöglich sogar gefährlich?

Nach anthroposophischer Definition besteht der Mensch zu gleichen Teilen aus Leib, Seele und Geist. Beides in Einklang zu bringen ist laut Matthes das Ziel für den anthroposophisch orientierten Arzt und Patienten. Nach dem Streß einer durchlebten Maserninfektion könne ein Kind manchmal besser laufen oder sprechen, erzählt der Vater von drei Töchtern. Deshalb läßt er seine Kinder nicht impfen. Der Arzt stellt sich damit gegen die Empfehlungen der „Ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut“ (Stiko). Der von der Stiko erstellte Impfkalender für Kinder und Säuglinge rät dringend zur Prophylaxe gegen Diphtherie, Polio, Keuchhusten, Masern, Mumps und Röteln.

Nicht alle anthroposophisch orientierten Ärzte lehnen die Stiko- Liste gleichermaßen rigoros ab. Die praktische Ärztin Dr. Inge Bartke-Andes empfiehlt zwar dringend die Impfung gegen Tetanus, Diphtherie und Polio. Allerdings rät sie dazu, möglichst erst mit den Impfungen zu beginnen, wenn das Kind frei sitzen kann. Erst dann sei das kindliche Immunsystem etwas ausgereifter. „Gegen Masern, Mumps, Keuchhusten oder Hepatitis impfe ich nicht pauschal, sondern sehe mir die Kinder einzeln an.“

So seien Kinder aus schlechten Wohnverhältnissen eher zu impfen als die sogenannten Wohlstandskinder. Auch bei Zweitgeborenen, deren Geschwister im Kindergarten- oder Schulalter eine erhöhte Ansteckungsgefahr darstellen könnten, rät die Ärztin zur Impfung. Ebenso wenn in der Familie bereits schwere Krankheitsfälle auftraten.

Grundsätzlich vom Individuum auszugehen ist eine Maxime der Anthroposophie. Selbst Dr. Matthes würde bestimmte Risikofälle impfen, z.B. behinderte Kinder. Im übrigen seien die Stiko-Empfehlungen „Panikmache“, an denen nur die „Pharmaindustrie gut verdient“. Sogar für Polio glaubt er die Risikogruppe einschränken zu können: „Extrem schlanke Kinder, die schon früh sehr intellektuell ausgeprägt sind, erkranken eher an Polio als andere.“

Bei diesen Diagnosen sträuben sich dem Kinderarzt Dr. Burghard Stück die Haare. „Solche Kollegen würde ich gern mal mit Kindern konfrontieren, die wegen angeblich harmloser Kinderkrankheiten Hör- oder Hirnschäden bekamen, beatmet werden mußten oder verkrüppelt sind“, sagt Stück, der selbst Mitglied der Stiko ist.

Ein Argument, das immer wieder gegen die Impfungen ins Feld geführt wird, sind die Nebenwirkungen, die im schlimmsten Fall bleibende Impfschäden hervorrufen können. Eine Mutter beobachtete beispielsweise nach der Keuchhustenimpfung, daß ihr Kind „eine Woche lang ganz malade und wesensfremd war“. Stück hält dagegen, daß aufmerksame, besorgte Eltern „oftmals jede kleine Irritation pauschal auf die Impfung zurückführen und vielleicht falsche Schlüsse ziehen“. Er schließt Nebenwirkungen zwar nicht aus, doch seien diese im Vergleich zu den Gefahren möglicher Krankheitsschäden sehr gering.

Homöopathische Substanzen, die bei Anthroposophen hoch im Kurs stehen, sind als Impfstoffe umstritten. Die Heilpraktikerin Gisela Bast ist von der Prophylaxe- Wirkung ihrer Mittel überzeugt. Gegen alle Kinderkrankheiten, Hepatitis, TBC und sogar Tetanus gibt es die homöopathischen Kügelchen, sogenannte Nosoden. „Allerdings können diese bei Kinderkrankheiten erst verabreicht werden, wenn bereits eine Epidemie im Umkreis des Kindes ausgebrochen ist. Vorher bringt das leider nichts“, räumt die Heilpraktikerin ein.

Auch Bast geht vom Einzelfall aus: Bei Kindern von schlechter Gesundheit und Eltern, die den Kügelchen nicht vollends vertrauen, würde sie zur schulmedizinischen Impfung raten. „Letztendlich liegt es aber im Ermessen der Eltern.“ Kathrin Elsner