Die Manege als Bühne des Lebens

Schule ist Zirkus, und Zirkus ist Schule – aus einer Arbeitsgruppe von Schülern an einer Stuttgarter Waldorfschule wurde ein fast professionelles Unternehmen: Vorhang auf für „Circus Calibastra“  ■ Von Philipp Maußhardt

Die Pressemappe des „Circus Calibastra“ wiegt ein knappes Pfund und sieht aus wie frisch aus der Werbeabteilung eines mittelständischen Unternehmens. Sie enthält: 1.) eine Leistungsbilanz, 2.) eine Kurzbeschreibung, 3.) Hintergrundinformationen und 4.) einen Pressespiegel. Rudi Ballreich hat sie aus der Tasche gezogen. Von Berufs wegen: Zur Zeit ist er Management-Trainer und Psychotherapeut. Aber so genau stimmt das auch wieder nicht, denn eigentlich ist Rudi Ballreich Pädagoge, Schauspieler, Zirkusdirektor, Leistungssportler beziehungsweise alles zusammen. Was an der Profimappe so verwundert: „Calibastra“ ist „nur“ ein Schülerzirkus einer Stuttgarter Waldorfschule.

Nur? Mehr als 10.000 ZuschauerInnen haben die Aufführungen schon in diesem Jahr gesehen, und die Liste der Auftritte in den vergangenen zehn Jahren füllt Seiten. Der wohl spektakulärste Auftritt fand im Zelt von André Hellers „Chinesischem Nationalcircus“ vor zwei Jahren statt. Abgesehen von Gastspielen in Rußland, der Schweiz, Schweden und Polen.

Die Erfolgsgeschichte von „Calibastra“ begann vor elf Jahren in einem Schweizer Schullandheim. Klassenlehrer Rudi Ballreich fand die Schüler seiner siebten Klasse „so schrecklich verschlafen, so langweilig, so brav. Da muß mehr Pfiff rein“, sagte er zu sich und spielte in den Schweizer Bergen den Zirkusdirektor. Die kleine Show, die sie nach ihrer Rückkehr aufführten, gefiel nicht nur den Eltern. Schon beim zweiten Auftritt in der Michael-Bauer-Schule standen die ZuschauerInnen Schlange. Der Rest ist schnell erzählt: Die Zirkus-AG wuchs jedes Jahr und mit ihr die Fangemeinde. Heute arbeiten 150 SchülerInnen und Ehemalige an einem Programm, das zwar nicht professionellen Ansprüchen genügt, aber weit über das hinausgeht, was andernorts von Schülerakrobaten geprobt wird.

Im Wagen der Straßenbahnlinie Nummer 4 sammelt sich ein merkwürdiger Haufen: Eine Gruppe Jugendlicher wuchtet eine schwere Matte in den Gang, andere mühen sich mit großen Koffern ab, und wieder einer versucht, ehe die Türen schließen, noch die Stereoanlage zu verstauen. Es ist Samstagnachmittag, und die Klasse elf der Michael-Bauer-Schule scheint wieder auf Zirkusreise: Achtzehn Schüler im Alter von sechzehn Jahren sind auf dem Weg ins Waldheim des CVJM. Den Auftritt von hundert Kindern und ihren Eltern hat die Klasse selbst organisiert; von der kleinen Gage bessern sie ihr Taschengeld auf. Kein Lehrer weit und breit. Doch gerade deshalb lacht das Pädagogenherz von Rudi Ballreich. „Das ist sagenhaft. Die machen inzwischen alles selbst. Die brauchen mich gar nicht mehr.“

Rudi Ballreich, der Initiator und erste Zirkusdirektor, hat sich längst aus der direkten Zirkusarbeit zurückgezogen. Trainiert wird einmal in der Woche mit Profis. Zirkusakrobaten und Leistungsturner zeigen den Schülern in der Sporthalle die Tricks und Kniffe, vom Einradfahren mit Jonglage bis zum Aufbau einer Menschenpyramide. Anschließend werden die artistischen Einlagen in kleine Geschichten eingebaut, die die Clowns der Truppe verkörpern – Geschichten von Träumen und Wirklichkeit, oft improvisiert und selbst erdichtet.

Benjamin Hirsch, sechzehn Jahre alt, ist so ein Clown, und er kann sich vor Anfragen kaum noch retten. „Ich könnte zweimal die Woche auftreten“, sagt er, wenn da nicht die Hausaufgaben wären. „Die kommen zuerst und dann der Circus.“ Soviel jugendliche Einsicht ist fast schon wieder beunruhigend, aber offenbar ist das auch das Erfolgsrezept dieses Zirkusprojekts. Inzwischen veröffentlichte Rudi Ballreich bereits sein zweites Buch im Hirzel-Verlag: „Zirkusspielen“, ein Handbuch zur Zirkuspädagogik.

Am Ende jedes Schuljahres treten die einzelnen Zirkusgruppen gemeinsam auf. Vier Tage lang mietet „Calibastra“ ein Zelt, und nur wer lange vorbestellt, hat Chancen, überhaupt einen Platz zu bekommen. So saßen 7.000 ZuschauerInnen allein in diesem Juli um die Manege, von der Rudi Ballreich behauptet: „Die ist wie das Leben, und nur der kann in ihr bestehen, der seine Angst überwindet.“

Kontaktadresse: Circus Calibastra, Michael-Bauer-Schule, Othellostraße 5, 70563 Stuttgart