Es war einmal ...

Eine Bahnfahrt von Washington nach New York  ■ Von Balduin Winter

Der Bahnhof? – Achselzucken ... Auf der Mail, dem Joggingpark der Washingtoner Beamten, scheint niemand die Union Station zu kennnen, obwohl sie direkt am Regierungsbezirk liegt. In den USA, dem Land der legendären Linien, ist die Zeit der Eisenbahnen abgelaufen. Klassiker wie die Southern Pacific von New Orleans über Arizona nach Los Angeles verkehren nur noch dreimal wöchentlich. Die „Boswash“, die Strecke zwischen Washington und Boston, ist dagegen noch lebhaft frequentiert.

Nun donnert der „Narrangansett“ mit scharfem Geschlacker über die Weichen durch die Vororte. Neben mir drehen Jugendliche ihren Radiorecorder auf waggonfüllende Lautstärke: HipHop- Songs, die von Drogen, Waffen und Schimpfwörtern handeln. Es ist ein nebeliger Morgen. Die langen Zeilen der Backsteinbauten wirken abgewohnt, aber nicht heruntergekommen. Man sieht der Stadt nicht an, daß sie die Kriminalstatistiken der USA anführt. Washington ist eine der ärmsten Großstädte geworden, seit zwischen 1950 und 1975 große Teile der weißen Ober- und Mittelschicht die Stadt verlassen haben. Vom Zugfenster aus sieht man freilich keine Statistiken, sondern nichtssagend flache Bauten, nach Landover tauchen sogar ein paar Wäldchen auf. Weiß gestrichene Zäune umgrenzen große Grundstücke, auf denen Häuser im Virginia-Stil stehen. Die Jugendlichen schalten das Radio aus, ziehen Bücher aus ihren Taschen und beginnen zu lesen. Sie steigen in Baltimore aus, ein schwarzes Liebespaar, eng aneinandergedrückt, nimmt Platz.

Baltimore. Meilenlang fährt man an Endlos-Friedhöfen vorbei, die Geschichte dokumentieren: hier ruhen einige Generationen von „Händen“, wie Fabrikarbeiter früher genannt wurden. Danach folgt die Industriezone, in der diese Hände Maschinen bewegten und den einstigen Reichtum der Ostküste produzierten: heute Fabrikruinen, eingesunkene Dächer, aufgerissene Backsteinwände, blinde Fenster, Schutt in verkrauteten Höfen, abblätternde Werbetafeln, darunter Kühlschränke und Gasherde mit aufgeplatzten Eingeweiden, Autoleichen, Wrackteile – nach dem Friedhof der Menschen der Friedhof der Dinge. Verfallende Denkmäler der großen Industrie, hier brodelte es, zischte und dampfte es einmal, und mit den Maschinen dampften die Hände, schweißverklebte Leiber, vielfach schwarz, Baltimore war und ist eine schwarze Stadt. Dunkel, oft rußgeschwärzt auch die endlosen Arbeiterviertel, schmale, leere Straßen mit rissigem Asphalt und übergelaufenen Gullys, Autoschrott, Plastikmüll, ein mit Folie bedeckter Pferdekadaver. In diesen Häusern wurden die Hände produziert, von denen ein Teil in die gesegneten Hallen der Industrie gelangte, von denen viele vergeblich um Jobs anstanden.

Maryland, kurze Erholung für die Augen, Waldland und Farmen, aber gleich verdichtet sich wieder der Industrieschorf, der das alte Indianerland überzogen hat. Überall ist Baltimore, ob es Aberdeen, Wilmington, Trenton oder Newark heißt. Selten bekommt man die USA so ungeschminkt zu sehen. Die beiden Schwarzen neben mir unterhalten sich zärtlich. Eine Trailerkolonie bei Perryville, davor ein riesiges Plakat: Seeufer, Stille und Frieden, ein sonnengebräuntes weißes Paar, Werbung für irgendein Knusperöl. Es gibt sie noch, diese Stille, diesen Frieden, irgendwo in Amerika, in den Appalachen, in den Rockies, unerreichbare Orte für die Bewohner des Trailerdorfes, deren Wirklichkeit aus ganz anderem Stoff besteht: aus Abfällen, Unkraut und halb eingestürzten Hütten am Ufer des Susquehanna River, an dem fünfzig Meilen aufwärts der strahlende Atommeiler Three Miles Island steht.

Überall ist Baltimore, auch wenn jede Stadt ihre eigenen Besonderheiten hat. Im Hafen von Wilmington liegt ein alter Kahn aus dem Zweiten Weltkrieg, Aufschrift: Mohawk, Schlacht auf dem Atlantik. Ein Denkmal, aber die Stadt selbst wirkt wie ein Schlachtendenkmal, die alte Industrieschlacht ist geschlagen, verloren ...

Irgendwann beginnt Philadelphia, die Stadt der brüderlichen Liebe, die Stadt der Verfassung, die das Recht auf Glück garantiert. PHOENIX STEEL CO., ein Phönix, der in Schutt und Trümmern liegt, FELS NAPHTA, davon ist ein hoher Schornstein geblieben, MC IHAIN SINCE 1798, am Boden zerstörte Tradition, Gleise zweigen zu einer eingefallenen Brücke ab, hängen in den Abgrund hinunter. Einer riesigen Werkhalle ist die Vorderfront abhanden gekommen, in ihrem geöffneten Bauch steht eine völlig verrostete Seilzugmaschine, ein paar übriggebliebene Stahlseile baumeln auf verrotteten Rollen. Das schwarze Paar flüstert heftig, der Tonfall wirkt verändert.

Und Baltimore geht weiter, es multipliziert sich auf dieser Strecke, aber man stumpft ab, wird gleichgültig. Nur so kann man den Abschnitt zwischen Newark und New York ertragen, diese Beleidigung des Sehnervs. Das Pärchen ist auseinander gerückt, zankt leise. Sümpfe, Kanäle, Schrott und Müll, Containertürme, Kräne, Raffinerien, in der Ferne das World Trade Center, die Skyline von Manhattan.

Ankunft in der Pennsylvania Station, das Paar steigt schweigend und mit Abstand aus. In der großen Halle wartet man nicht nur auf Züge; viele sind hier, weil es jetzt, im eiskalten Januar, im Bauch der Erde wärmer ist als oben in den durchwehten Straßenschluchten.

In der 7th Avenue, oberhalb der West 42nd Street, sitzt ein alter schwarzer Mann auf dem Gitterrost eines Heizungsschachtes der Subway. Er trägt am Körper einen Jutesack mit Löchern für Kopf und Arme, der Saum der Sacköffnung bedeckt gerade die Knie, die Füße stecken in zerfransten Espadrillen. Eine speckige Schirmkappe liegt neben ihm auf dem Rost, ein paar Münzen drin, vom kleinsten. Als die Ampel „Walk“ anzeigt. umschwirrt eine Traube von Menschen den Bettler. Einer steigt hastig über die Beine des Alten. Mit dem nächsten Schritt kickt er die Kappe weiter. Sie kippt um, Münzen klimpern in den Schacht. Der Alte hat nicht einmal aufgeschaut.