Gottes Stimmen

Lars von Triers Melodram „Breaking the Waves“ und Turteltaubs „Phenomenon“, eine Art Hubbard-Hagiographie, mit St. John Travolta  ■ Von Mariam Niroumand

Bei Licht besehen sind Melodramen nichts anderes als säkularisierte Passionsgeschichten. „Breaking the Waves“, der neue Film des inzwischen als wunderlicher Däne beliebten Regisseurs Lars von Trier, gibt sich mit der Verweltlichung gar nicht mal allzuviel Mühe. Es heißt, daß er schon seine Hauptdarstellerin Emily Watson deshalb ausgewählt habe, weil sie als einzige unter den Bewerberinnen beim Vorsprechen nicht geschminkt und sogar barfuß gekommen sei. Irgendwie habe sie ihn an Jesus erinnert, sagte er in einem seiner wenigen Interviews.

Auch ginge sowohl dieser wie die meisten anderen seiner Filme („Epidemic“, „Element of Crime“, „Europa“, „The Kingdom“) auf die Walt-Disney-Version von Jules Vernes „Les Enfants du capitaine Grant“ zurück, ein Familienabenteuerfilm in Kostümen des 19. Jahrhunderts, dessen jugendliche Helden durch die halbe Welt ziehen auf der Suche nach dem verlorenen Vater. Als sie einmal vor einer großen Sintflut Zuflucht unter einem Baum nehmen, treffen sie auf wilde Tiere aller Arten, mit denen sich in dieser Lage aber friedvoll leben läßt.

Auch „Breaking the Waves“ verdankt einiges dem 19. Jahrhundert. Wie ein Märchenbuch oder ein Brontä-Roman ist der Film in Kapiteln erzählt, die jeweils durch ein Zwischenbild die Lage der Protagonistin ankündigen: „Bess heiratet“, „Leben mit Jan“, „Allein leben“, „Glaube“. Zwar sind sie in den betörenden Farben der romantischen englischen Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts gehalten (traubige Wolken in Türkis, verheultes Grün, rosa Schlieren), aber dazu hört man die siebziger Jahre: Roxy Music, Procol Harum, Leonard Cohen.

Wie es sich für eine Passionsgeschichte gehört, weiß man nicht genau, woher Bess ihren Jan kennt. Sie lebt als streng beobachtetes Mitglied einer Calvinistengemeinde nahe den Klippen an der schottischen Nordküste, und er ist ein Fremder, ein Ölarbeiter. Manche Gesichter und sogar die Steine selbst meint man schon bei Bergmann gesehen zu haben. „Was, Bess McNeill“, so fragen die Calvinistenväter gestreng (man denkt an Theodor Dreyers „Jeanne d'Arc“), „haben die Fremden der Gemeinschaft mitgebracht?“ „Ihre Musik?!“ antwortet Bess vorsichtig, und in der Tat: Jan kommt zur Hochzeit mit einem Hubschrauber und einer Entourage von Jungens, die küssen, singen und trinken können. Die Männer trinken Bier, die Calvinisten Limonade. Der Kirchturm hat keine Glocken, das braucht man hier nicht. Natürlich ist Bess noch Jungfrau. Begeistert wickelt sie ihren Jan aus seiner Hose, und er hat ihr auch was Schönes mitgebracht: „Der ist ja riesig!“

Alles ist mit Handkamera gefilmt, dann auf Video kopiert und vom Video wieder abgefilmt, um schließlich in Cinemascope ausgestrahlt zu werden. Dieses Verfahren hat von Trier schon in seiner Fernsehserie „The Kingdom“ angewandt, einem „Twin-Peaks“ für den dänischen Sozialstaat, und es gibt dem Ganzen einerseits diese Homemovie-Qualität, andererseits entlastet das Cinemascope- Format von der Klaustrophobie der schottischen Szenerie.

Gefilmt hat Robby Müller, der Kameramann von Wim Wenders, und er hat für jede Aufnahme, das merkt man, innerlich neu angesetzt. In jedem anderen Format, gar von Merchant-Ivory, das sagt von Trier selbst, „hätte man den Film auch nicht ausgehalten“.

Bess muß ab und an in die Kirche laufen. Dort spricht sie als Stimme Gottes, nur ihr Mund bewegt sich, die Augen sind wirklich wie stumm, als wären sie aus ihrem Kopf ausgezogen (man denkt an den „Exorzisten“): „Du bist ein selbstsüchtiges, schlechtes Mädchen, Bess.“ Und antwortet sich mit hoher Stimme und offenen Augen: „Ich will gut sein, Vater!“

Daß Jan auf die Bohrinsel zurückfährt, ist eine Katastrophe für Bess. „Hast du nicht gemerkt“, fragt ihre Schwägerin Dodo Jan an seinem letzten Tag, „Bess ist nicht ganz richtig im Kopf!“ Irgendwie wird angedeutet, daß sie nach dem Tod ihres Bruders in einer psychiatrischen Klinik war, aber die Entscheidung, was das bedeutet, muß der Zuschauer den ganzen Film über selbst treffen: Glaube oder Wahn? Liebe oder Besessenheit? Moral oder Terror?

Wieder geht sie beten, Gott soll ihn zu ihr zurückbringen, „egal wie“. „Egal wie?“ fragt Gott zurück. Tags darauf bringen sie ihn, ein Stahlarm ist ihm auf den Rücken geschlagen. Moral ist Terror: Von jetzt an ist das Problem, daß alle Gutes tun wollen: Jan, der „Kastrierte“, will Bess nicht um ihr Sexleben bringen und trägt ihr deshalb auf, andere Männer zu treffen und ihm davon zu erzählen. Bess, die glaubt, durch ihre Gebete an ihm schuldig geworden zu sein, wirft sich, seltsam aufgetakelt, überraschten nordischen Kerlen an den Hals; der Arzt will sie therapieren, aber ihr keine Medikamente geben.

Man mag es, oder man mag es nicht. Vielleicht sind Melodramen ja wirklich mehr für Mädchen. Und vielleicht ist es ja wirklich der Film zum Theweleit: Sie muß sterben, damit er seinen Bohrturm wieder aufrichten kann. Aber man ist bereit, von Trier so weit zu folgen, weil bis ganz zum Schluß die Stimmen der Vernunft hörbar sind und weil fast alle Protagonisten so kreuzsympathisch sind und weil ein wirkliches Leben durchaus denkbar erscheint, nur eben zufällig nicht an jenem Ort, zu jener Zeit, für jene Bess.

Trendspotting: Es läßt sich doch wohl sagen, daß die letzten Kinomonate eine ganze Reihe von Passionen sahen, die allerdings durchweg bigotter gehalten waren als „Breaking the Waves“: In „Leaving Las Vegas“ opfert sich eine Prostituierte aus mir unerfindlichen Gründen für diesen unschön vor sich hinkotzenden Alkoholiker, in „Striptease“ strippt eine Mutter für das Sorgerecht an ihrer Tochter, und in „Independence Day“ fährt ein Alkoholiker in den Orkus, um den Aliens einen letzten Atomstoß zu verpassen.

Daß nun auch noch John Travolta sich einreiht, in einem Film von Jon Turteltaub („While You Were Sleeping“) mit dem Titel „Phenomenon“, ist nur auf den ersten Blick überraschend. Schließlich handelt es sich – auch wenn der Verleih sich müht, das Gegenteil zu versichern – um eine Art Bio- oder eher noch Hagiographie von L. Ron Hubbard, in dessen Scientology Church Travolta, wie er sagt, die erste Rettung seines Lebens erfuhr (die zweite kam durch Tarantino, der ihn mit „Pulp Fiction“ aus der Bedeutungslosigkeit in eine Ikone verzauberte).

Travolta spielt einen Joe Average, Automechaniker, aus der kleinen Stadt mit Namen Harmon (!), den an seinem 37. Geburtstag ein heller Strahl aus dem Himmel trifft, worauf er plötzlich täglich sechs Bücher lesen, Spanisch sprechen, FBI-Codes knacken und Riesentomaten züchten kann. Seine Freunde rücken von ihm ab, dabei wollte er nur Gutes tun. Er stirbt dann daran, daß man – mit wenigen Ausnahmen – nicht an ihn geglaubt, ihn sogar verfolgt hat.

Hier ist auf die Säkularisierung, die das Melodram bräuchte, nun gänzlich verzichtet worden. Es ist wichtig, daß Spanisch nicht gelernt wird, sondern wie ein Blitz in den Auserwählten hineinfährt, daß die ganze Natur dem geistlichen Führer zuwächst wie auch die wenigen offenherzigen Menschen und daß die Unfälle, die hier passieren, eigentlich Menschenopfer an eine höhere Sache sind. „,Phenomenon‘ ist ein Film über die Kraft des Willens“, erläutert das Presseheft. Mädchen wissen: So viel Kraft und Willi verträgt das Genre nicht.

„Breaking the Waves“ Regie: Lars von Trier. Mit Emily Watson, Stellan Skarsgad u.a. Dänemark, 1996.

„Phenomenon“. Regie: Jon Turteltaub. Mit John Travolta, Kyra Sedgewick u.a. USA, 1996

Start: nächsten Donnerstag