Eine Geschichte des schnellen Sieges

■ Nach über zehn Jahren Kampf bleiben den Taliban nur noch zwei Gegner

Berlin (taz) – Die Taliban, die jetzt die Macht in Afghanistans Hauptstadt Kabul an sich gerissen haben, hatten Ende 1994 erstmals in den Krieg zwischen den verschiedenen Mudschaheddin-Fraktionen eingriffen. Sie erklärten die Mudschaheddin-Führer zu „Kriminellen“, die den Sieg über die sowjetischen Besatzungstruppen für ihre „korrupten Ziele“ mißbraucht hätten, und kündigten die „Durchsetzung der göttlichen Ordnung“ und eine „Ära des Friedens“ an. Das brachte ihnen beträchtlichen Zulauf der Bevölkerung und desillusionierter Mudschaheddin, die ihre Waffenarsenale mitbrachten.

Ihre erste Aktion im September 1994 diente jedoch profaneren Zielen: In der afghanischen Südprovinz Kandahar sorgten sie dafür, daß ein pakistanischer Lkw- Konvoi mit Hilfsgütern für die mittelasiatischen Republiken Turkmenistan und Usbekistan freie Durchfahrt durch Mudschaheddin-Gebiet erhielt. Das nährte von Anfang an das Gerücht, daß die Hintermänner der Bewegung in Pakistan zu suchen seien. Als Koordinator ihrer militärischen Aktionen soll sich Generalleutnant i. R. Hamid Gul hervorgetan haben, in den achtziger Jahren Chef des pakistanischen Militärgeheimdienstes „Inter Services Intelligence“ (ISI).

Westliche Afghanistanexperten sehen die Ursprünge der Bewegung bereits Mitte der achtziger Jahre. Damals entstanden Widerstandsgruppen gegen die Sowjets, die auf religiöser Gefolgschaft beruhten: mit islamischen Geistlichen an der Spitze und ihren Schülern (Taliban) als Fußvolk. Dem ehemaligen pakistanischen Generalstabschef Mirza Aslam Beg zufolge sollen 1985/86 in der ostafghanischen Provinz Kunar erste „Taliban-Fronten“ aufgestellt worden sein. Im dortigen „befreiten Gebiet“ wurden Madrassas, höhere Islamschulen, gegründet, an denen vor allem Kriegswaisen eine religiöse Erziehung und militärische Ausbildung erhielten. Finanziert worden sei das Experiment aus Saudi-Arabien. Beg muß es wissen: Zusammen mit General Hamid Gul koordinierte er den Kampf der afghanischen Mudschaheddin gegen die Sowjets und kanalisierte Milliarden von Dollar sowie Waffen aus den USA, Saudi- Arabien sowie anderen westlichen und Golfstaaten über die Grenze nach Afghanistan. Von diesen Vorräten zehren die dortigen Fraktionen bis heute. Daß die Taliban aber im Winter 1994/95 bis an die Stadtgrenzen Kabuls verrücken konnten, verdankten sie eher ihrem Verhandlungsgeschick als bloßer militärischer Macht. Ganze Mudschaheddin-Einheiten liefen zur stärkeren Seite über. Das Neue an der Bewegung war 1994 „nicht die Existenz der ,Taliban-Fronten‘, sondern ihre unerwartete Koordination und das Vorhandensein einer politischen und militärischen Strategie in Verbindung mit der Verfügung über finanzielle und militärische Mittel“, schreibt der französische Afghanistanspezialist Olivier Roy. Beides kam aus oder über Pakistan.

Die Taliban kontrollieren nun vier der fünf wichtigsten Städte Afghanistans, mindestens 19 der 30 Provinzen des Landes, zwei Drittel seines Territoriums und über die Hälfte der Bevölkerung. Ihnen stehen im wesentlichen noch zwei Gegner gegenüber. Einerseits sind das die geschwächten Regierungstruppen Masuds. Sie haben sich in dessen Hochburg, das Panjschir- Tal nördlich von Kabul, zurückgezogen. Von dort hatten ihn auch die Sojwets nicht vertreiben können. Die Taliban müssen früher oder später auch dieses Gebiet unter Kontrolle bringen, wenn Kabul nicht ständig bedroht sein soll – und insbesondere, wenn Masud sich mit dem usbekischen Warlord Abdurraschid Dostam verbündet, der mehrere Nordprovinzen kontrolliert. Thomas Ruttig