Schicksalsgeschichte der Neuzeit

In Berlin tagten zum erstenmal die deutschen Wissenschaftshistoriker gemeinsam  ■ Von Steffen Mayer

Zur ersten Deutschen Wissenschaftshistorikertagung, die gestern an der Humboldt-Universität in Berlin zu Ende ging, hatten gleich drei große Fachgesellschaften gemeinsam geladen. Unter dem Thema „Zeitenwenden – Neuorientierungen in Wissenschaft und Gesellschaft“ präsentierten die „Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte“, die „Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik“ und die „Georg-Agricola-Gesellschaft“ ein beeindruckendes Programm: Mehr als 200 Vorträge wurden den 600 Teilnehmern geboten, und natürlich wurden über die thematischen Schwerpunkte, die Zeit um 1600 und die um 1900, hinaus, aktuelle Bezüge hergestellt.

Gerade in Anbetracht der Tatsache, daß die moderne Wissenschaft immer mehr Felder des alltäglichen Erlebens beeinflußt oder steuert, während es kaum noch eine Möglichkeit gibt, in diesem Prozeß die Orientierung zu behalten, wird die fundamentale Rolle solcher Betrachtungen augenfällig. Die Wissenschaftsgeschichte weist die Bedingungen der Möglichkeit neuzeitlicher Wissenschaft auf und wird damit zur „Schicksalsgeschichte der Neuzeit“, so Professor Richard Toellner in seiner Eröffnungsrede. Daraus läßt sich aber noch nicht folgern, daß der Wissenschaftshistoriker ein rückwärtsgewandter Prophet, also das bessere Mitglied einer Technikfolgenabschätzungskommission ist. Denn davor steht die Diskussion der Problematik von Zeit- und Entwicklungsvergleichen. So wurde von Winfried Schulze aus München in seinem Vortrag dieses methodische Problem aufgeworfen. Er bemühte sich, die jeweiligen Gelenkstellen zwischen der Wissenschaftsgeschichte und der Geschichtswissenschaft aufzuzeigen. Von Mitchell Ash, der sowohl in Berlin als auch in den USA forscht, wurde in einer ähnlichen Weise, über das Jahr 1900 hinaus, gefragt, ob es in der Geschichte vergleichbare Wechselwirkungen zwischen radikaler gesellschaftlicher Neuorientierung und Wissenschaftsentwicklung gibt.

Doch die Anbindung des Rahmenthemas an jüngere Neuorientierungen stand nicht primär zur Debatte. Der Vorsitzende des Vereins zur Durchführung des Deutschen Wissenschaftshistorikertages, Professor Rüdiger vom Bruch, faßte die Hauptintention der Veranstalter zusammen: „Was uns hier eigentlich interessiert, ist die Frage, wieweit der bekannten grundlegenden Veränderung im abendländischen Denken um 1600, also in der Zeit des Paracelsus, Newton, Galilei, (...) nicht eine vergleichbar grundlegende Zäsur in der letzten Jahrhundertwende um 1900 entspricht.“ Die Eigenständigkeit der letzten Jahrhundertwende als geschichtliche Periode wurde hierbei besonders an der Rationalisierung der Wissenschaften und der „Verwissenschaftlichung“ des Irrationalen erwiesen. Zur Verdeutlichung seien hier nur die Schlagworte Rassenhygiene und Eugenik in den Bereichen von Medizin, Psychiatrie und Kriminologie angeführt.

Ein weiterer Zweck dieser Mammuttagung war, die Wissenschaftsgeschichte in das Bewußtsein der Öffentlichkeit zu bringen. Es wurde demonstriert, daß sich die Wissenschaftsgeschichte in Deutschland durch Eigeninitiative und weitestgehende Selbstfinanzierung auf dem Niveau internationaler Wissenschaftsstandards behauptet – was insofern überraschte, als ihr der Ruch des akademischen Mauerblümchens und Emeritiertenhobbies anhaftet.

Da sich 1964, aufgrund des Wunsches, Symposien anders zu konzipieren, die „Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte“ aus der „Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik“ abspaltete und die Zusammenarbeit nicht ohne Spannungen geblieben ist, wird der nächste große Wissenschaftshistorikertag wohl auf sich warten lassen. Es gibt jedoch Überlegungen, vielleicht unter einem neutralen Dachverband und im Sechsjahresturnus weiter zu kooperieren.

Unter Umständen ergeht es jedoch dem Wissenschaftshistorikertag wie der DDR-Wissenschaftsgeschichte – die wurde nämlich ein für allemal für beendet erklärt. Statt Integration gab es für wenige DDR-Wissenschaftshistoriker Assimilation, für das Gros gab es jedoch nur Arbeitsplatzverlust, was heute bedauert wird.

Bedauerlich war auch, daß die Vielzahl der Vorträge die Organisation gelegentlich überforderte, da mit einem solchen Ansturm von Interessierten nicht zu rechnen war und sich viele Räume als zu klein erwiesen. Zumindest wurde phasenweise ein plastischer Eindruck von der alten Klage überfüllter Universitäten gewonnen.

Aber dafür gaben die Vorträge einen Einblick in das Wechselspiel zwischen gesellschaftlichen Veränderungen und wissenschaftlichen Innovationen, die aufgrund der Ausrichtung der Mehrheit der Beiträge auf innerwissenschaftliche oder stark wissenschaftsbezogene Probleme natürlich im Vordergrund standen. Womit nicht behauptet wurde, daß wissenschaftliche Neuorientierungen in diesem Wechselspiel grundsätzlich auch als vorgängig oder auslösend zu betrachten seien.

Eines jedoch darf man gewißlich behaupten: Die, vor allem finanzielle, Zurückhaltung, die der Berliner Wissenschaftssenator Peter Radunski bewies, konnte die Entwicklung des Wissenschaftshistorikertages nicht aufhalten.