„Tunnel-Revolution“ in ganz Palästina

Der Frust über den stagnierenden Friedensprozeß hat zu der Explosion geführt  ■ Aus der Westbank Karim El-Gawhary

„Früher unter der Arbeitspartei und Peres hat die palästinensische Polizei auf Palästinenser geschossen, der jetzige israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hat nur ganze 100 Tage im Amt gebraucht, um die palästinensische Polizei auf die isrealische Armee feuern zu lassen.“ So faßt Ibrahim in der Westbank-Stadt Ramallah in einem Satz die neue Qualität des israelisch-palästinensisches Konflikts zusammen. Dabei blickt er von weitem auf eine Gruppe von ein paar hundert palästinensischen Jugendlichen, die am südlichen Eingang der Stadt nach dem Freitagsgebet und der Beerdigung der neun Toten vom Vortage einen israelischen Straßenposten mit Steinen angreifen. Die palästinensische Polizei hält sich an diesem Tag im Hintergrund.

Es ist die Fortsetzung dessen, was die Palästinenser inzwischen die „Tunnel-Revolution“ nennen. Eine Anspielung auf den Auslöser der blutigen Unruhen, der Eröffnung eines Tunnels unter der Jerusalemer Al-Aksa Moschee vor einer Woche. Bisher hat diese neue Intifada fast 70 Palästinensern und Israelis ihr Leben gekostet. Auch ein Ägypter kam an der südlichen Grenze des Gaza-Streifens ums Leben.

Doch anders als in den ersten Tagen war die israelische Armee am Freitag in Ramallah bestens vorbereitet. Auf einem Hügel hat unter dem Johlen der Jugendlichen ein israelischer Panzer Stellung bezogen, mehrere Dutzend israelischer Scharfschützen haben ihre Positionen auf Dächern der Häuser rund um den Straßenkontrollpunkt bezogen. Ständig kreisen zwei Hubschrauber über dem Geschehen, von der gleichen Art wie jene, die am Vortag von oben in die Menge gefeuert hatten. Das alles scheint die palästinensischen Jugendlichen nur anzufeuern, die Soldaten wieder und wieder mit Steinen zu bewerfen. Sporadisch feuern jene mit Gummigeschossen zurück. Eine gespenstisch ungleiche Szene, die sich über Stunden hinzieht.

Erst zum späten Nachmittag hin sammeln sich die Jugendlichen nach ihrem Katz und Maus-Spiel zu einem Siegesmarsch zurück ins Zentrum von Ramallah. Langsam nimmt die palästinensische Polizei wieder ihren Straßenposten ein, den sie am Morgen aufgebaut hat, um die Jugendlichen von einer Konfrontation mit der israelischen Armee abzuhalten. Es hatte nur kurz gedauert, bis sie ihre halbherzigen Versuche aufgegeben hatte. „Wir haben die Jugendlichen nicht dort hingeschickt aber wir haben sie auch nicht aufgehalten“, erklärt Marwan Barghuti, Generalsekretär von Yassir Arafats Fatah-Organisation in der Westtbank bei einem kurzen Besuch die offizielle Linie dieser Tage.

Im Krankenhaus der Stadt stellt sich die Lage anders dar. Alle fünf Minuten bringen die Krankenwagen Verwundete aus Ramallah und anderen Orten der Region, wo gleichzeitig ähnliche Straßenschlachten stattfinden. Ein junger Mann aus Jericho ist vor wenigen Minuten hier gestorben. Bedrückt warten Angehörigen der Verletzten weiter auf gute oder schlechte Nachrichten.

Auf der Fahrt ins weiter nördlich gelegene Nablus am nächsten Tag zeigt sich, was die von der israelischen Regierung verordnete interne Schließung der Westbank bedeutet. Die einzelnen Dörfer und Städte sind voneinander abgeriegelt. An allen wichtigen Straßen wurden israelische Kontrollposten aufgebaut. Normalerweise erreicht man Nablus von Jerusalem aus in ein sechzig Minuten. Doch heute quält sich das Sammeltaxi mehrere Stunden über enge und löchrige Pfade. Zu einem kleinen Aufpreis natürlich. Nur die alte Frau, deren Cousin vor zwei Tagen bei den Unruhen umgekommen ist, darf verbilligt mitfahren. Außer ein paar Schafen, ein oder zwei Weilern und ein paar anderer Sammeltaxen, die den gleichen beschwerlichen Weg gewählt haben, ist nicht viel zu sehen.

In einem genau abgestimmten System informieren sich die Taxifahrer über die Verkehrslage. Nicht die üblichen Staus, sondern die ständig wechselnden israelischen Armeeposten gilt es zu vermeiden.

Im palästinensisch kontrollierten Nablus sind sämtliche Läden verrammelt. Es ist ein Streiktag. Die Atmosphäre ist gespannt. Im Inneren der Stadt rund um das Josefs-Grab hat die palästinensische Polizei eine lokale Ausganssperre verhängt. Der Polizeioffizier läßt auch keine Journalisten durch. Er möchte seine Ruhe haben. Auf dem Gelände des Grabes, das sich laut dem Osloer Abkommen unter voller israelischer Souveränität befindet, hat sich eine halbe Hundertschaft israelischer Soldaten verschanzt.

Das Grab war letzte Woche die Szenerie der blutigsten Auseinandersetzungen in Nablus. Am Donnerstag morgen hatte, laut palästinensischer Augenzeugenberichten, eine Gruppe von unbewaffneten Demonstranten das Grab umstellt. Sie wollten gegen den Jerusalemer Tunnelbau protestieren und den Toten der ersten Stunden des Aufstands gedenken. Eine für die ehemalige Intifada typische Auseinandersetzung entwickelt sich. Die israelischen Soldaten wurden mit Steinen beworfen und feuerten sporadisch mit scharfer Munition zurück. Schon bald starb ein palästinensischer Jugendlicher. Als sich die Stimmung anheizte, forderte die israelische Einheit im Inneren des Grabes Verstärkung an.

„Ohne sich mit uns, wie laut Oslo-Abkommen vorgesehen, in irgendeiner Weise zu koordinieren“, erzählt Scheich Tayal, der stellvertretende Chef des lokalen palästinensischen zivilen Sicherheitsdienstes in Nablus. Statt dessen scheinen die Palästinenser von einer israelischen Einheit überrascht worden zu sein, die sich, wild um sich schießend, einen Weg zum Grab bahnte. „Wir dachten, sie kommen, um Nablus erneut zu besetzen“, erinnert sich einer der Demonstranten. Das scheint dann auch der Zeitpunkt gewesen zu sein, an dem die palästinensische Polizei begann, zurückzuschießen. Die „Steine gegen Solaten“-Situation in den Zeiten der Intifada entwickelte sich in einen Schußwechsel à la libanesischer Milizen.

Vier israelische Soldaten starben in dem mehrstündigen Schußwechsel, zwei weitere erlagen später ihren Verletzungen. Vier Palästinenser wurden schwer verletzt, über 100 wurden mit leichten Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Erst spät in der Nacht beruhigte sich die Situation etwas. Nach Verhandlungen zwischen israelischer Armee und der palästinensischen Polizei wurden die Soldaten im Innern des Grabes unter dem Schutz einer von der palästinensischen Polizei verhängten Ausgangssperre evakuiert und durch eine neue Einheit ersetzt.

„Es war eine vollkommen verrückte Situation“, blickt Tayal zurück. „Wir haben die israelischen Soldaten vor unseren eigenen Leuten beschützt, um das Osloer Abkommen nicht zu verletzen. Für eine Weile standen wir zwischen zwei Feuern, dem unserer aufgebrachten Menschen und dem der im Inneren des Grabes eingeschlossenen panischen Soldaten.“

In Nablus scheinen sich unterdessen über die weiteren Gründe der Eskalation alle einig. Den Menschen ist einfach der Geduldsfaden gerissen. Zu viel Frust hat sich in den letzten Monaten unter Netanjahus Amtszeit angestaut. Die Eröffnung des historischen Tunnels unter der Al-Aqsa-Moschee war da nur der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte.

„Dieses ständige ‘Nein' Netanjahus, die weitere israelische Besetzung Hebrons trotz einem längst überfälligen Rückzugsabkommen, die neuen Siedleraktivitäten, das alles hat zu der Explosion der letzten Tage geführt,“ erklärt Dalal Salama. Sie ist Fatah-Mitglied und Vertreterin im palästinensischen Legislativ-Rat von Nablus. Weder die Vereinigten Staaten noch die Europäer hätten richtig Druck gemacht. Da hätten die Menschen hier die Dinge wieder in die eigenen Hände genommen. „Wir haben uns für den Frieden als strategische Option entschieden. Wir wollen keine Gewalt anwenden, um unsere bereits vertraglich festgelegten Rechte zu bekommen. Aber Netanjahu muß auch verstehen, daß friedliche Verhandlungen, wenn sie zu nichts führen, nicht unsere einzige Option sind,“ fährt Salama fort.

In ihrem Garten versammeln sich am Abend Verwandte, Nachbarn und einige Mitarbeiter der Stadtverwaltung. Sie tauschen aufgeregt die Geschichten der letzten Tage aus. Wer wann und wie angeschossen wurde, oder wie die israelischen Soldaten bei ihrer Evakuierung Netanjahu verfluchten. Trotz der vielen Toten und Verletzten herrscht eine gute Stimmung. „Irgendwie haben uns die Ereignisse der letzten Tage wieder unsere Würde zurückgegeben“, beschreibt Salama ihr Gefühl. Irgendwie, sagt einer der Nachbarn auch, hätten sie der ganzen Welt hoffentlich gezeigt, daß es niemals auf Dauer funktionnieren kann, die Menschen in Bantustans zu halten.

Am nächsten Morgen liegt über der ganzen Stadt eine Stimmung des Wartens. Werden sich Netanjahu und Arafat treffen? Wird es erneut nur einen Fototermin oder ein Gespräch mit substantiellen Ergebnissen? Langsam machen die ersten Läden auf. Die Stadt erwacht zum Leben. Aber die palästinensisch kontrollierte Insel wirkt ein wenig nach Innen gekehrt. Wenige Kilometer in jede Himmelsrichtung haben Straßenposten der israelischen Armee die Stadt abgeriegelt.

„Diese Straße ist eine geschlossene militärische Zone und gesperrt,“ informiert ein junger israelischer Soldat. Auf die Frage, warum selbst Journalisten keinen Zugang hätten, grinst er und antwortet ganz offen, während er auf ein paar Hügel am Ende der Straße deutet: „Wir wollen nicht, daß ihr seht, was wir dahinter zusammengzogen haben.“ Auf der Kuppe eines der Hügel sind schwere Panzer zu erkennen. Auch die israelischen Soldaten harren der neuen Befehle und warten auf die Ergebnisse eines möglichen Arafat-Netanjahu- Treffens.