Viva México – Viva América

Die mexikanischen Texaner, so uneins sie sonst sind: Den demokratischen Kandidaten zum Senat, Victor Morales, unterstützen sie alle. Er wäre der erste US-Mexikaner im Senat  ■ Von Reed Stillwater

Gustavo Garcia?, das ist ein Spanier“, sagt Gavino Fernández, als erklärte dieser Umstand ihre Meinungsverschiedenheit. Señor Garcia hingegen sagt, daß manche, die sich hier dafür ausgeben, in Wirklichkeit gar keine Mexikaner seien: „Das sind Nachfahren von Comanchen oder Apachen, die von den ersten Spaniern christianisiert wurden“.

Garcia ist Mitglied des Stadtrats von Austin, der Hauptstadt des Bundesstaates Texas, Gavino Fernández ist Mitglied einer Nachbarschaftsorganisation im Ostteil, im mexikanischen Viertel der Stadt. Der eine sitzt im Rathaus, der andere im Barrio. Als mächtig bezeichnen sich beide. Für Garcia ist Fernández eine Art Patrón, der den Stadtteil kontrolliert, für Fernández ist Garcia ein Mitglied der herrschenden Clique, die sich auf Kosten der Mexikaner bereichert. Stolz auf ihre mexikanische Abstammung sind sie beide. Ihre Familien sind seit Generationen in Texas ansässig, und ihre Wurzeln in diesem Land reichen in die Zeit vor dem mexikanisch-US-amerikanischen Krieg und die Grenzziehung von 1836 zurück, durch die weite Teile des heutigen Texas von Mexiko an die USA fielen. Beide sind Tejanos, die den mexikanischen Unabhängigkeitstag, den 16. September, mit dem Ruf „Viva México, viva Tejas, viva América“ feiern. Beide sind eben Tejanos, Texaner mexikanischer Abstammung.

Die Bevölkerung des Bundesstaates Texas besteht zu einem Viertel aus Mexikanern – in Städten wie San Antonio liegt der mexikanische Bevölkerungsanteil bei 40 Prozent. Der Anteil der Mexikaner an hochdekorierten US-Soldaten beträgt 30 Prozent, der an der Universität 5 Prozent; ihre Wahlbeteiligung liegt bei etwa 10 Prozent. Anfang des nächsten Jahrhunderts werden Mexikaner in Texas die größte Bevölkerungsgruppe sein.

Mexikaner haben in Texas politisch ein ganz anderes Standing als in Kalifornien. Gesetzesinitiativen wie in Kalifornien, die illegale Einwanderer von den Schulen und Sozialleistungen ausschließen, wären in Texas undenkbar, was nicht heißt, daß es den texanischen Mexikanern ökonomisch besser ginge. Die ärmsten Gemeinden im ganzen Land findet man in den grenznahen Counties in Texas, in den Colonias nahe Laredo und Brownsville.

Mögen die kalifornischen Latinos auch mehr verdienen und die Hispanics in Chicago mehr Rechte haben, Texas ist das Herzland der mexikanischen US- Amerikaner. Hier hat die Bürgerrechtsbewegung der mexikanischen US-Amerikaner ihre stärkste Bastion.

Gustavo Garcias Urgroßvater war Bürgermeister einer nordmexikanischen Stadt. Mit einiger Verwunderung mußte Gustavo, als er zur Schule kam, erfahren, daß mit ihm und seinesgleichen etwas nicht in Ordnung sein sollte, er mußte Englisch lernen, und seine Mitschüler hänselten ihn, als er in der Mittagspause Tortillas aß. „Heute essen alle Tortillas und Tacos“, sagt Señor Garcia. „Unsere mexikanische Kultur ist es, die uns Halt gibt. Wir müssen unsere Kultur pflegen und fördern, sie gibt uns Widerstandskraft, Selbstbewußtsein und ein Zuhause, wenn wir in der Anglo-Gesellschaft heruntergemacht werden. Ich kann ohne Geld leben, aber nicht ohne meine Kultur.“ Für ihn ist der Zusammenbruch der mexikanischen Kultur und Familie die Ursache für Gangbildung in den Barrios.

Für Gavino Fernández ist das Bekenntnis zur mexikanischen Kultur nicht minder wichtig, wichtiger aber noch ist die ökonomische Situation der mexikanischen US-Amerikaner. „Mr. Garcia redet viel davon, was er alles für die mexikanische Gemeinde tut, aber als es darum ging, ein Heizkraftwerk im Ostteil, dem mexikanischen Stadtteil, zu errichten, war Garcia dafür. Jetzt will er den Bau eines Sportzentrums in unserem Stadtteil fördern, das ist das letzte, was wir hier brauchen.“

Gavino Fernández hat die Nase voll von der liberalen Politik der Demokraten. „Was machen diese Leute, wenn sie 60.000 Dollar aus Bundesmitteln zur Verfügung haben? Sie beschließen ein Gartenprojekt für unseren Stadtteil. Wir sollen den Stadtteil verschönern und gleichzeitig einen Teil unserer eigenen Lebensmittel anbauen – so stellen diese Herrschaften sich vor, daß Mexikaner ihre Situation verbessern. Verbessern tut sich dabei nur die finanzielle Situation der Klientel Garcias. Denn zunächst wird für 20.000 Dollar eine Sozialarbeiterstelle zur Betreuung des Projekts geschaffen, die natürlich einer der Günstlinge Garcias bekommt. Die Verschönerung des Stadtteils führt dann dazu, daß noch mehr Anglos von den günstigeren Mieten in unserem Stadtteil angezogen werden und die mexikanische Bevölkerung weiter an den Rand gedrängt wird.“

Gavino Fernández möchte das Geld lieber in Stipendien für junge Mexikaner und in die Verbesserung der Schulen gesteckt sehen. „Durch all diese Programme und Projekte werden Bundesmittel nur in die Kassen des etablierten Klüngels geleitet.“ So wie er gegen die entmündigenden Sozialprogramme wettert, klingt Fernández wie ein Republikaner. Unnötig zu sagen, daß Gavino und Fernández sich gegenseitig als „Paten“ bezeichnen.

Nein, Republikaner sind die mexikanischen US-Amerikaner nicht, sie wählen demokratisch, obwohl sie eher konservativ und gegen Abtreibung, für die Familie und die Verteidigung ihres Besitzes und vor allem gegen Sozialhilfe sind. Aber die Fraktionierung zwischen den einen und den anderen setzt sich fort bis hinein in die Demokratische Partei. Die einen bilden die „Mexican American Democrats“, die anderen die „Tejano Democrats“.

In einem aber sind sich dieses Jahr alle Mexican Americans und Tejanos einig, sie haben einen neuen Stern, einen Helden, eine Hoffnung, eine integrierende Leitfigur, einen Lehrer aus Mesquite, der, aus armen Verhältnissen kommend, das Parteiestablishment der Demokraten und die Republikaner gleichzeitig herausgefordert hat: Victor Morales kandidiert als erster mexikanischer Amerikaner für den Senat und tritt gegen Phil Gram an (an den sich mancher aus den Zeiten des republikanischen Vorwahlkampfes erinnern wird). Wider Erwarten gewann Morales den Senatsvorwahlkampf gegen den Günstling der Demokraten, worüber diese bis heute verschnupft sind.

Während Phil Gram etwa drei Millionen Dollar für seinen Walkampf zur Verfügung hat und Fernsehspots schalten kann, hat Morales nur 300.000 Dollar und fährt mit einem Pickup durch die Lande, auf dessen Ladefläche stehend er seine Reden hält. Texas aber ist riesig und mit einem Laster nur schwer flächendeckend zu erreichen. Phil Gram führt denn auch in Meinungsumfragen mit bis zu 16 Prozentpunkten. Seine mexikanischen Unterstützer aller Fraktionen schreckt das nicht. Ihre Geheimwaffe, so sagen sie, ist ihr Potential. Eine Million neuer Wähler wollen sie dieses Jahr mobilisieren, deren Stimmung erfassen die Meinungsumfragen nicht. Auf den getrennten Parteiversammlungen der Tejanos und Mexican American Democrats wird Texas in hundert Bezirke eingeteilt, jedes Familienoberhaupt gelobt, tausend Stimmen abzuliefern.

Morales tritt an als David gegen Goliath, als Don Quijote gegen die Windmühlenflügel eines gut geölten republikanischen Establishments. Er gibt sich bescheiden, fast schüchtern im Auftreten. Er weiß nicht alles, er hat nicht auf alle Fragen eine Antwort, aber eines kann er seinen Wählern versprechen, er wird ihnen immer die Wahrheit sagen und nie nach der Pfeife des großen Geldes tanzen. Diese Botschaft kommt auch bei Anglos an, die gerne ein frisches Gesicht im Senat sehen würden.

Die Demokratische Partei aber tut sich mit der Unterstützung von Morales sehr schwer. 1,6 Millionen Dollar stünden für den Senatswahlkampf zur Verfügung, aber Texas gilt als Hochburg der Republikaner, wozu also hier Geld verschwenden. Die Meinungsumfragen aber sind widersprüchlich. Was das Rennen Bob Dole versus Bill Clinton in Texas anbelangt, sagen sie ein Kopf-an-Kopf- Rennen voraus. Die Unterstützung von Morales könnte den Ausschlag geben: Zum ersten Mal seit 16 Jahren könnte Texas wieder für die Demokraten stimmen.

Doch die Partei zögert. Das ist ein Überbleibsel jenes Rassismus, der bis zur Wahlrechtsreform 1965 mexikanische US-Amerikaner ganz von der Wahl ausschloß. Da sind Gustavo Garcia und Gavino Fernández einer Meinung.

Doch das alte Establishment der texanischen Demokratischen Partei könnte viel mehr als die Chance verlieren, den ersten Senator mexikanischer Abstammung in den Senat zu schicken, ihr könnte die texanische Partei überhaupt entgleiten. Seit der Kandidatur Morales' hat sich der Anteil der mexikanischen US-Amerikaner an den eingetragenen Demokraten in Texas von 28 Prozent auf 48 Prozent erhöht.

Unabhängig davon, ob Morales gewinnt, die Demokratische Partei in Texas wird nie wieder sein, was sie mal war, und die Stimme der mexikanischen US-Amerikaner wird zu einer der lautesten in den USA werden. Auch vor diesem Hintergrund sind die Rivalitäten der Señores Garcia und Fernández zu sehen.