Wo war eigentlich Gott im Krieg?

taz-Portrait-Serie über bosnische Flüchtlinge in Hamburg, Teil 2: Andrijana (19) will studieren und vergessen  ■ Von Silke Mertins

Daß sie noch lebt, verdankt Andrijana einem Zufall. Als am 25. Mai 1995, „das Datum weiß ich noch genau“, in Tuzla 65 junge Menschen einer Granate zum Opfer fielen, war sie zuhause. „Weil ich für die Schule lernen mußte“, sagt sie, „sonst wäre ich mit Sicherheit auch dort“ gewesen. „Dort“, das war vor dem Blutbad eine Straßenecke, wo sich in mehreren nebeneinander liegenden Cafés Tuzlas Jugendliche trafen. „In Tuzla muß man sich nicht verabreden“, erzählt Andrijana, „die Stadt ist klein, und wenn man ausgeht, trifft man immer jemanden, den man kennt.“ Auch viele der Toten vom Mai 1995 kannte Andrijana. Leben im Krieg bedeutet Tod überall. Das auszuhalten, „ist sehr, sehr schwer.“

Schwer waren auch die Nächte im Keller, „wenn es draußen gefährlich war“, wenn man die Granateneinschläge hörte und Andrijana nicht schlafen konnte. Denn: „Wo war eigentlich Gott im Krieg?“ Wie konnte er zugucken und nicht helfen? Gibt es überhaupt Gerechtigkeit, einen Gott? Dabei ist Andrijana, katholische Kroatin, eigentlich ein gläubiger Mensch.

Früher, vor dem Krieg, als Religion und Nationalität „nicht so wichtig“ waren, hat man die moslemischen Nachbarn zu Weihnachten eingeladen, wenn es knusprigen Schweinebraten und leckeren roten Wein gab. Schwein und Wein? „Wenn es religiöse Moslems waren, hat man noch etwas anders gekocht, aber viele hatten auch keine Probleme damit.“ Hauptsache, man besuchte sich gegenseitig. Und das war ja auch interessant mit der anderen Religion. „Mir gefällt am Islam zum Beispiel, daß man verpflichtet ist, den Armen zu helfen.“ Aber heiraten, naja, das ist etwas anderes. Sie hat nichts dagegen, „aber die Kinder wissen nicht, wo sie hingehören.“

Andrijanas Elternhaus steht in einem kleinen, vorwiegend von Kroaten bewohnten Dorf, fünf Kilometer von Tuzla entfernt. Gemüse aus dem Garten, Hühner, Schweine, Kühe – all das erleichterte das Überleben, als das Gebiet vom Rest der Welt abgeschnitten war. Nur mit Öl, Mehl und Zucker „war's schwierig“. Und keine Schokolade; eine unversüßte Kindheit, die sie gern vergessen würde.

Alltag in Unfrieden, das hieß auch, in permanenter Alarmbereitschaft zu sein, immer die Nachrichten zu hören. Denn jeden Augenblick konnte es losgehen: Angriffe, Schüsse, Granaten. „Als ich vor einem Jahr nach Hamburg kam, habe ich auch ständig erwartet, daß etwas passiert.“ Wochen dauerte die Gewöhnung an das Leben ohne Lebensgefahr. Ein Jahr ist das her. „Ich möchte einfach nur hier studieren“, sagt die jetzt 19jährige, „Volks- oder Betriebswirtschaft“, um später in Bosnien, vielleicht bei einer deutschen Firma, eine interessante Arbeit zu finden. „Die Ökonomie wird die Bosnier wieder zusammenführen“, glaubt Andrijana. Selbst während des Krieges hätten die verfeindeten Seiten miteinander gehandelt.

Doch das, was für den Rest der akademischen Weltgemeinde selbstverständlich ist – ein Auslandsstudium – soll für sie nicht gelten. Weil Adrijana als Kriegsflüchtling einreiste, will die Hamburger Ausländerbehörde ihr kein Studentenvisum erteilen. Mit der ersten Stufe der „Rückführung“ soll auch sie zurück. „Dabei konnte ich gar nicht anders ausreisen.“

Andrijana hat nichts von der unerträglichen Leichtigkeit des Jungseins; ernst und gefaßt sitzt sie auf dem Sofa ihrer Tante, bei der sie jetzt wohnt. „Der Krieg hat alle in meinem Alter sehr verändert“, sagt sie. Es gab keine Freiräume, keine Musik, kein Kino, keine Disko. „Nur schwere Gedanken über Krieg, Tod und wie man da wieder heraus kommt.“ Unwiederbringliche Jahre einer verpaßten Jugend, und „das werde ich denen, die daran Schuld haben, nie vergessen.“

Am Freitag Teil 3: „Ich dachte, die erschießen uns“, Fatima Husseinsphic (65) aus Zenica