Kohlsches Chaos in Betrieben

Kürzung der Lohnfortzahlung bei Krankheit: Fast 15.000 norddeutsche Metaller informierten sich gestern über ihre Rechte  ■ Von Julia Kossmann

Der Dreher Herbert M. blieb gestern im Bett. Nicht aus Protest gegen die Kürzung der Lohnfortzahlung bei Krankheit, sondern wegen 39 Grad Fieber. Sein Arbeitgeber, die Deutsche Airbus (DA) in Stade, könnte ihm bereits am Ende des Monats die Rechnung dafür präsentieren, daß er sich einen Virus eingefangen hat: 20 Prozent Lohnabzug für die Fehlzeiten. Aber ob und wie sich das Bonner Sparpaket tatsächlich auf sein Budget auswirken wird, ist noch nicht absehbar.

1000 seiner Kollegen versammelten sich gestern bei DA in Stade (mehr als 95 Prozent der Belegschaft), um sich über die Konsequenzen des Gesetzes, das gestern in Kraft trat, zu informieren. Das taten in Hamburg und ganz Norddeutschland nach Angaben der IG Metall (IGM) Küste gestern insgesamt fast 15.000 Beschäftigte in der Metallindustrie; darunter 3000 bei DASA Finkenwerder, 1000 bei Mercedes in Harburg und 350 bei Philips Medizin Systeme in Fuhlsbüttel. Die Arbeit ruhte derweil für mehrere Stunden.

„Die Verärgerung ist riesengroß. Am 26. Oktober ist es 40 Jahre her, daß mit einem dreimonatigen Streik in Schleswig-Holstein die Lohnfortzahlung erstritten wurde“, zitiert Günter Eidtner, Betriebsratsvorsitzender der DASA in Finkenwerder, die Anfänge des Versuchs einer Sozialpartnerschaft in der Bundesrepublik, den die Nordmetall – wie auch andere Arbeitgeberverbände – nun für beendet ansieht. Der Gesamtbetriebsrat aller DA-Standorte will nun am 7. Oktober – in Abstimmung mit dem Daimler Benz-Betriebsrat und der IG Metall – das weitere Vorgehen gegen den „Rechtsbruch der Arbeitgeber“ koordinieren. „Die Regierung hat das Chaos in die Betriebe getragen, und die Arbeitgeber haben es noch verschlimmert“, kommentiert Gunter Barnbeck, Justitiar der IGM Küste.

Für die Metaller im Norden sei die Lohnfortzahlung nach dem „Gesetz vom 27. Juli 1969“ festgeschrieben, erläutert Barnbeck den Rechtsbruch durch die Bosse. Nur wenn einzelne Tarifverträge auf ein allgemeines Gesetz zur Lohnfortzahlung abzielten, könnten sich Arbeitgeber auf das neue Spargesetz beziehen. Zwei Rechtsgutachten zum neuen Gesetz geben der Gewerkschaft weitgehend Recht, die Arbeitgeber halten eigene Expertisen für überflüssig. Die Gewerkschafter werden sich zudem in den nächsten zwei Wochen weiter durch den juristischen Dschungel pflügen, um ihren Mitgliedern optimalen Rechtsschutz zu ermöglichen.

Günter Willich, Pressesprecher des Verbandes Nordmetall, wittert in einer „starken Emotionalisierung die Gefahr, daß zurückgewonnene Wettbewerbspositionen wieder einknicken“, zum Beispiel wenn Mercedes seine Autos nicht ausliefern könne. Nordmetall habe seinen Mitgliedsfirmen die Kürzung nicht empfohlen, „um Mitarbeiter zu drangsalieren“, sondern um im Wettbewerb zu bestehen, ja, sogar um Arbeitsplätze zu erhalten. Das Gesetz treffe, so Willich, schließlich irgendwie jeden, und sei „deshalb auch gerecht“.

Erst wenn Herbert M. am Monatsende seine Gehaltsabrechnung bekommt, kann er gegebenenfalls gegenüber der DA Ansprüche geltend machen und bei einer Ablehnung gegen seinen Arbeitgeber klagen. Sein Fall wäre dann nur ein Tropfen in einer ganzen Prozeßwelle, die noch auf die Arbeitsgerichte zurollt.