Das Vertrauen ist weg

■ Protest-Betriebsversammlung bei Mercedes-Benz in Marienfelde. Der Schnitt in die Lohnfortzahlung bringt die Belegschaft auf. Neue Produktionsphilosophie gefährdet

Erhard Weiland sagt gar nichts. Der Personalchef hält sich an das Redeverbot, das der Daimler-Vorstand seinen Filialen auferlegt hat. Mit versteinertem Blick beobachtet Weiland am Dienstag vormittag, wie sich seine Schützlinge vor dem Werkstor in Marienfelde aufbauen, um dem Betriebsratsvorsitzenden Kurt Krause zuzuhören.

Wenn Daimler glaube, als erstes Unternehmen die Lohnfortzahlung kürzen zu müssen, ruft der Star der Berliner Betriebsräte, „dann sollen sie sich nicht wundern, wenn sich der Mercedes-Betriebsrat an die Spitze des Widerstandes setzt.“ In der Kantine brennt die Luft. Knapp 1.000 KollegInnen der Frühschicht rücken im Speisesaal zusammen, damit alle Platz finden. Die Produktion von Motoren, die das Marienfelder Werk im Mercedes-Verbund abwickelt, steht still. „Wir müssen inzwischen die Aktionen der Belegschaft kanalisieren“, definiert Krause die neue Rolle der Betriebsräte. Seitdem die Daimler- Benz AG beschloß, ihren 220.000 Beschäftigten im Krankheitsfall nur noch 80 Prozent des Lohns auszuzahlen, sind die Arbeiter sauer. „Was unsere Väter 1956 in 16 Wochen erstreikt haben, das lassen wir uns nicht wegnehmen“, ruft der Metallgewerkschafter Manfred Foede erregt – und der Speisesaal tobt. Betriebsrat Krause betont immer wieder, wie enttäuscht er und seine KollegInnen seien. Das Vertrauen ist weg. Das aber spielt in der Produktionsphilosophie des Konzerns eine so große Rolle, daß es sogar eine „Vertrauensorganisation“ gibt. Mercedes-Marienfelde praktiziert Gruppenarbeit. Obwohl inzwischen 700 ArbeiterInnen weniger auf der Lohnliste stehen, produziert das Werk viel mehr Motoren, Wasserpumpen und Kurbelwellen als früher. Auch der Krankenstand ist gesunken. Aber das Schmiermittel der Gruppenarbeit ist eben das Vertrauen: in die Gruppe, in die flache Hierarchie, in den „Wettbewerbsfaktor Mensch“, wie es in einer Mercedes-Broschüre heißt. „Mit einer einzigen Entscheidung stellt der Vorstand das Vertrauen in Frage“, sagt Krause nachdenklich. Und er erntet dafür mehr stilles Nicken von den 1.000 Wettbewerbsfaktoren im Speisesaal als Beifall. „Die Herren haben gar keine Vorstellung, welchen Schaden sie angerichtet haben.“

Die Nachdenklichkeit ist wie weggewischt, als einer der „wildgewordenen Funktionäre“, wie die Arbeitgeberverbände nicht müde werden zu betonen, ans Mikro tritt. Manfred Foede, erster Bevollmächtigter der IG Metall Berlin, peitscht die Arbeiter auf. Er verrät, wer alles nicht auf die 100prozentige Lohnfortzahlung verzichtet: die Abgeordneten des Bundestags, der Vorstand von Daimler-Benz, auch leitende Angestellte erhalten zwischen drei und neun Monaten volles Gehalt, wenn sie krank werden.

Die Stimmung ist reif für den Höhepunkt, der dem Betriesbratsvorsitzenden vorbehalten bleibt. Kurt Krause ventiliert eine Idee, „keine Aufforderung“, wie er pflichtgemäß betont, denn es herrscht Friedenspflicht, sprich: Streikverbot. „Warum schenken wir uns am 24. Oktober“, fragt er seine KollegInnen, „nicht einen freien Tag?“ Die Belegschaft ist aus dem Häuschen. Am 24. Oktober 1956 begann der 100tägige Streik, mit dem die Metaller in Schleswig-Holstein die Lohnfortzahlung erkämpften. Christian Füller