Die Pose der Entscheidung

Friedrich Balke über Carl Schmitts Versuch, den „Staat nach seinem Ende“ zu retten  ■ Von Niels Werber

Es gibt Denker, deren schlechter Ruf so legendär ist, daß schon die bloße Nennung des Namens das Publikum polarisiert. Carl Schmitt, der Staatsrechtler und politische Philosoph, ist ein Beispiel dafür. Wer sich mit diesem „Kronjuristen des Dritten Reiches“ beschäftigt, läuft Gefahr, für einen Konservativen, Reaktionär oder Militaristen gehalten zu werden. Schmitt scheidet die Geister. Dies mag an seinen schneidenden Aphorismen liegen, die eine Stellungnahme geradezu erzwingen: „Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Motive und Handlungen zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind“; „souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“; „Diktatur ist der Gegensatz zu Diskussion“ oder: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“ Die wachsende Zunft der Schmitt- Philologie betreibt eine unendliche Exegese, sei's, um ihn zu retten, sei's, um ihm den Prozeß zu machen, sei's auch, um dem „bedeutendsten Mann in Deutschland auf dem Gebiet des Verfassungs- und Völkerrechts“ (Hannah Arendt) gerecht zu werden.

Im Boom der Schmittiana fällt die Dissertation von Friedrich Balke auf als Versuch, das Problem zu rekonstruieren, auf das Schmitt sich bezog. Seine Texte, so die These, reagieren sensibel auf die Herausforderung der konkreten historischen Situation, scheitern aber fatal beim Versuch ihrer Bewältigung. Schmitt stellt also eine gute Frage, auf die er freilich selber eine schlechte Antwort gibt. Die Situation, zu der Schmitt Stellung bezieht, beschreibt Balke – um es an Namen festzumachen – mit Theorien Michel Foucaults, Gilles Deleuzes und Félix Guattaris. Deren Darstellung der Ablösung „klassischer“, staatlicher Politik durch eine Körper statt Räume okkupierende Bio-Macht, eine statistisch operierende Normalisierungsgesellschaft und eine neue, postsouveräne „Machtökonomie“ hilft Schmitts Frage aufzuschließen. Man könnte sagen, daß diese (und weitere) französische Denker von einem Ende des Staates ausgehen. Auch Schmitts Analysen legen diesen Befund nahe. Die Versuchung Carl Schmitts besteht nun gerade darin, mit aller Macht den Staat nach seinem Ende zu „rekonstruieren“, gegen seine Auflösung anzuschreiben.

Aus Ereignissen werden „News“

In Schmitts Buch „Politische Romantik“ findet man Hinweise darauf, was den Souverän um den Kopf und das Politische um den Begriff gebracht hat. Die Romantik habe die klassischen Unterscheidungen von Staat und Gesellschaft, von Freund und Feind, ja die Fähigkeit zur Unterscheidung überhaupt und damit die Möglichkeit der Entscheidung durch eine Ästhetisierung aller Differenzen zersetzt. Die strenge Ordnung, in der jede Ursache ihre Wirkung hat und in der der Souverän die Lage überschaut und dann ihr gemäß entscheidet, wird absorbiert von einem „gesellschaftsweiten Netzwerk der Kommunikation“. Das einzige Gesetz ist nun die Anschlußfähigkeit einer Operation.

Was immer passieren mag, es hat keine bestimmten Konsequenzen mehr, sondern es erregt bestenfalls Interesse. Selbst der Krieg ist nur ein Grenzfall spannender Unterhaltung. „Jetzt erst kann alles zum Anlaß für alles werden und wird alles Kommende, alle Folge in einer abenteuerlichen Weise unberechenbar“, schreibt Schmitt; was folgt, folgt nicht aufgrund gewisser Gesetze (causa), sondern nach Maßgabe ästhetischer Plots, und man muß nur an die aktuelle „Realität der Massenmedien“ (Luhmann) denken, um ihm zuzustimmen. Wie die Romantik jede Unterscheidung zu ästhetisieren vermag, gerät den Medien jedes Ereignis zu News – unabhängig von der Sache, gleichgültig ob es um Mord, Hochzeit, Arbeitslosenquote oder Fußballspiel geht. Dieser „informatorischen Fluidisierung und Auflösung der Welt“ in der „massenmedialen Öffentlichkeit“, die Schmitt registriert, begegnet er mit einer „dezisionistischen Pose“: Mit dem „Pathos der Dezision und der Diktatur“ stellt sich Schmitt der Romantik entgegen, in deren für ihn verabscheuungswürdigen Vorstellungen Balke „präzise Indikatoren“ für eine Kommunikationsgesellschaft ausmacht, deren Motto die „Favorisierung von Anschließbarkeit auf Kosten von Form“ ist. Der Menschentyp dieser Epoche ist ein „Mann ohne Eigenschaften“, aber mit Möglichkeitssinn.

Dies klingt nach Beliebigkeit, aber Ordnung ist auch ohne einen Schöpfer oder Souverän denkbar, der den „Normalfall“ schafft. Nicht transparente Autorität oder gar transzendente Vor(her)sehung schaffen heute glaubwürdig Erwartungssicherheit, sondern statistische Datenerhebung und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Auch hier sieht Schmitt die Gegenwart als defizitär; an die Stelle der moralisch-theologischen „Unterscheidung von Gut und Böse“ trete „eine sublim differenzierte Nützlichkeit und Schädlichkeit“. Risikokalkulation ersetzt die Politik. Mit dieser Beschreibung, so Balke, treffe Schmitt „genau die Operationsweise des von Foucault so genannten Normalitätsdispositivs“. In sublime Differenzen, in Durchschnittswerte und Standardabweichungen, zerlegt die neue „Bio- Macht“ die Bevölkerung, dem „Vorsorgestaat“ der Versicherungswirtschaft ist nichts außerordentlich.

Der „Führer“ muß es richten

Auch diese „Transformation der klassischen politischen Macht in die moderne Bio-Macht“ scheint Schmitt gesehen zu haben. Schmitt aber verlangte es im „Zwielicht“ postsouveräner Politik nach der Sichtbarkeit des locus decisionis, den er dann im „Führer“ auszumachen glaubte. Obschon auch seine eigenen Beobachtungen nahelegen, daß die „Komplexität der modernen Gesellschaft jede Form ihrer Steuerung im ganzen unmöglich macht“, ergibt er sich dem „Phantasma“ des „Diktators“.

Balke kann zeigen, wie Schmitt zumindest in einer frühen Studie seiner Versuchung entkommt und einen „Normalzustand“ beschreibt, der nicht von der Ausnahme, über die der Souverän verfügt, gedacht wird, sondern als Operationsweise, die im „quantitativ-durchschnittlichen Sinne“ normal, nämlich erwartbar und kalkulierbar verläuft. In „Gesetz und Urteil“ beschreibt Schmitt das Recht als dynamisches, selbststabilisierendes System, das in der Lage ist, jede Abweichung zu integrieren. Das richterliche Urteil legt weder Gesetze aus, noch vollzieht es den Willen eines Souveräns, sondern es befindet so, wie jeder andere „normale juristisch gebildete Richter“ auch entschieden hätte. Solche auf keine Normen und Werte verweisende Normalität ist genau die, von der Michel Foucault und François Ewald sprechen.

Diese Arbeit nennt sich selbst eine „dekonstruktive Lektüre“, und die Rezensenten haben diese Einschätzung wiederholt. Tatsächlich wird dem französischen Denken viel Platz eingeräumt. Wenn aber die Theorie, die eine Arbeit leitet, nicht so sehr jene ist, die lang und breit erörtert wird, sondern eher die, welche unbefragt das Selbstverständnis der Grundannahmen prägt, dann muß man die Studie wohl eher systemtheoretisch nennen. Niklas Luhmanns Konzepte der Anschlußfähigkeit, der Selbstorganisation, der Resonanz oder der Autopoiesis sind für Balke „selbstverständlich“. Manch ein selbstverständliches (Vor-)Urteil über das Werk Carl Schmitts bedarf jedenfalls dank Balkes inspirierender Lektüre der Revision, über Schmitts Person ist kein Wort verloren worden.

Friedrich Balke: „Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts“. Wilhelm Fink Verlag, 426 Seiten, 68 DM