: Die Psychoanalyse als Familienroman?
Elisabeth Roudinescos vernichtende Studie über Leben und Werk des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan ■ Von Manfred Riepe
Als Juri Gagarin in den Weltraum flog, wollte Jacques Lacan unbedingt in die UdSSR fahren. „Jetzt, da der Mensch in den Weltraum geht, wird es hier unten eine neue Psychologie geben.“ Bei einem Abendessen mit Alexis Leontjew, dem damaligen Vizepräsidenten der Akademie der pädagogischen Wissenschaften der UdSSR, wurden Lacans Hoffnungen, die Sowjets mit der Psychoanalyse vertraut zu machen, allerdings jäh zerstört. Als die Rede auf den Kosmonauten Gagarin fiel, erklärte Lacan barsch: „Es gibt keinen Kosmonauten.“
Der beleidigte Leontjew glaubte, der Franzose wolle die ruhmreiche Leistung der Sowjetunion leugnen und führte Beweise an. Mit Lacans nachfolgender Präzisierung konnte der Pädagoge noch weniger anfangen: „Es gibt keinen Kosmonauten, weil es keinen Kosmos gibt. Der Kosmos ist eine Sichtweise des Geistes.“ Das Tischtuch war zerschnitten.
Diese Anekdote berichtet Elisabeth Roudinesco in ihrer Biographie, der ersten über den 1981 verstorbenen Psychoanalytiker Jacques Lacan. Sie steht für seine Beziehung zur Pädagogik. Als „unlesbar“ bezeichnete Lacan seine „Schriften“, womit er kritisierte, daß die Universität verständliches, aber wertloses Wissen vermittelt. Dem universitären Diskurs setzte er die sein eigenes Sprechen und Schreiben durchziehende „Rhetorik des Unbewußten“ entgegen. Das will sagen, daß zwischen der Handlung des Artikulierens und dem, was man für den Sinn hält, ein Riß klaffe, der durch keine Theorie überbrückbar sei. Auch nicht durch die der Psychoanalyse.
Für das Leben eines Menschen heißt dies: Eine Biographie ohne Lücken ist ein Todesurteil. Dieses Todesurteil fällt die Historikerin Elisabeth Roudinesco über Lacans Denken, indem sie auf altbackene Weise Leben und Werk ineinander spiegelt. Wie ein roter Faden durchzieht ihren „Bericht über ein Leben“ der Vorwurf, Lacan „handelte entgegen seiner Theorie“. Dabei wird die Biographin unfreiwillig komisch: „Lacan gefiel sich darin, die Lehre von der Kastration theoretisch mit unendlicher Subtilität anzugehen ... dachte [aber] nicht einen Augenblick daran, eine so schöne Lehre auf seine eigene Person anzuwenden.“
Das kurzschlüssige argumentum ad hominem ist typisch für ein so unbequemes Werk wie das Lacans. Im Rückgriff auf Freud hat der 1901 geborene Analytiker zeitlebens gegen die Verflachung der Psychoanalyse zur „Ego-Psychologie“ amerikanischer Prägung gewettert. Als Abweichler wurde er 1964 aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen und gründete eine eigene Schule. In den späten 70ern wurde er in Deutschland von Literaturwissenschaftlern rezipiert. Das gegenwärtige Interesse an ihm reduziert sich darauf, die eine Hälfte seines Werks mit Derrida zu „dekonstruieren“ und die andere Hälfte auf Heidegger zurückzuführen.
Roudinesco wählt den Angriff auf die Person. Die Diskrepanz zwischen Leben und Werk zieht sie als moralischen Maßstab heran, um die Theorie zu bewerten. Und um die Theorie niederzumachen, drischt sie auf Lacan ein. Sie wird nicht müde, ihn als „bourgeoisen“, von „Geldgier“ angetriebenen Snobisten darzustellen, den sie mit Alfred Jarrys Hampelmann-Diktator Ubu Roi identifiziert. Bereits das Kleinkind ist „launenhaft und tyrannisch“. „In wilder Gier [...] raubte“ der junge Karrierist seiner ersten Patientin „ihre ganze Lebensgeschichte“, um „seine familialen und phantasmatischen Obsessionen“ auf sie zu projizieren.
Dandy im eleganten Morgenmantel
Lacan war allerdings kein Heiliger. Einige Histörchen illustrieren die Widersprüchlichkeit der Person. So führte Lacan in den 40er Jahren ein Leben in zwei Familien parallel. Roudinesco beschreibt „ein entsetzliches Geschehnis“. Die Kinder der einen Frau erkannten in einem haltenden Wagen ihren Vater mit einer anderen Frau und einem Kind. „Sie liefen ,Papa! Papa!‘ rufend auf ihn zu. Lacan warf ihnen daraufhin einen überraschten Blick zu, dann wendete er seinen Blick ab, als ob er nichts gesehen hätte. Er fuhr los und verschwand im fließenden Verkehr.“
Aus aneinandergereihten Klatschgeschichten wird noch lange keine Biographie. Auf Tratsch ist Roudinesco aber im wesentlichen angewiesen. Ihre 1986 erschienene „Geschichte der Psychoanalyse in Frankreich“ war ein Affront, auf den hin Lacans Schwiegersohn und Nachlaßverwalter Jacques-Alain Miller die Kooperation verweigerte. Wichtige Begebenheiten kennt Roudinesco also nur vom Hörensagen. So beschreibt sie Lacans Tochter Judith am Grab des Großvaters „in eleganter Abendgarderobe“. In Le Monde korrigierte Judith 1993: „Ich war nicht da.“
Nicht zugängliche Quellen bedeuten im Medienzeitalter kein Problem, Roudinesco beobachtet den Analytiker mit versteckter Kamera: „Oft empfing Lacan seine Patienten beim Aufstehen, bekleidet mit einem eleganten Morgenmantel und mit schwarzen Pantoffeln an den Füßen. Nach einigen höchst eilig erledigten Sitzungen verschwand er, um sich zu rasieren, anzukleiden und zu parfümieren. Manchmal bat er Gloria, ihm die Nägel zu schneiden. Er jammerte bei jeder Bewegung der Schere wie ein Kind.“ Immerhin gesteht Roudinesco Lacan zu, er habe es mit seinen Patientinnen nie auf der Couch getrieben.
So unangemessen Roudinesco Lacans Leben beschreibt, so sehr scheitert sie an dem Anspruch, die „Geschichte eines Denksystems“ nachzuzeichnen, angefangen mit dem Begriff „System“, gegen den Lacan sich stets gewehrt hat. Problematisch ist ihre Vorgehensweise, denn sie leitet die Theorie aus der Biographie ab. Daß von einem Scharlatan – der die Sitzungsdauer verkürzte, um mehr Patienten auszusaugen und seine „wenige Minuten“ dauernden Kuren weiterführte, während er seinen Schneider empfing –, theoretisch nichts Gutes kommen kann, versteht sich da von selbst. Auf achthundert Seiten Klatsch zeichnet Roudinesco humorlos das Bild eines Kotzbrockens, der seine verkorkste Biographie zur psychoanalytischen Theorie stilisiert, „so, als würde sein eigener Familienroman in seine Lehre einbrechen“.
Dabei geht Roudinesco so weit, zu behaupten, Lacan habe „aus der gegen seinen Großvater gerichteten Verfluchung einige seiner Hauptbegriffe gezogen“. Einer dieser Hauptbegriffe ist der Name- des-Vaters, mit dem Lacan den Freudschen Mythos vom Urvater- Mord konzeptuell ausarbeitete. Dazu heißt es bei Roudinesco: „Ausgehend von der Erniedrigung der väterlichen Lage, unter der er in seiner Kindheit gelitten hatte, ließ er aus dem Entsetzen, das ihm die Gestalt Emiles, des Vaters des Vaters, immer noch einflößte, den Begriff eines Namens-des-Vaters entstehen.“ Als wäre Marx aus Futterneid Kommunist geworden.
Aufschlußreich wird das Buch jeweils dort, wo die Geschichte der verschiedenen psychoanalytischen Verbände geschildert oder das geistige Klima einer Epoche umrissen wird, ohne daß Roudinesco in platte Soziologisierung verfällt. Erhellend ist die Passage über Claude Lévi-Strauss, in der Roudinesco einen interesanten Zusammenhang herstellt. Eine Expedition zu den südpazifischen Trobriand-Inseln brachte die Kunde, daß deren Bewohner keine Lust verspürten, den Vater zu morden und die Mutter zu begatten. Damit schien bereits zu Lebzeiten Freuds die Universalität des Ödipuskomplexes – archimedischer Punkt der Psychoanalyse – erschüttert.
Das Unbewußte als eine Sprache
Das Mißverständnis, die Psychoanalyse sei auf solche Weise empirisch zu falsifizieren, resultierte aus einer konkretistischen Lesart Freuds, die erst von Lévi-Strauss' „Elementaren Strukturen der Verwandtschaft“ abgelöst wurde. Demnach ist das auf dem Ödipuskomplex basierende Inzestverbot eine sprachliche Struktur, die am Berührungspunkt zwischen Natur und Kultur angesiedelt ist. Von Lévi-Strauss inspiriert, spitzte Lacan den Freudschen Ödipuskomplex strukturalistisch zu. Roudinesco lobt diesen linguistic turn Lacans, demzufolge das Unbewußte sprachlich strukturiert ist.
Dieses Lob der Umarbeitung steht jedoch im Kontext einer versuchten Totaldemontage Lacans. Denn: „In dieser Umarbeitung entging das Unbewußte großenteils der biologischen Prägung, in der Freud es in direkter Fortführung des darwinistischen Erbes verankert hatte ...“. Wenn Roudinesco Freud lapidar als Biologisten bezeichnet, so ist ihr Lob der „Umarbeitung“ zugleich eine Ohrfeige für Lacans Lebenswerk. Denn Lacan begriff seine programmatische „Rückkehr zu Freud“ als Ausarbeitung dessen, was jener vorgedacht hatte. Lacan hat allergrößten Wert darauf gelegt zu zeigen, daß Freud die „Traumdeutung“ und „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“ nur schreiben konnte, weil er implizit bereits von einem sprachlich strukturierten Unbewußten – Kerngedanke von Lacans Theorie – ausging. Sein Werk begriff Lacan in diesem Sinne ausdrücklich als einen Kommentar des Freudschen Werks.
Die Geschichte von Lacans Denken entfaltet sich in seinen 26 Seminaren, deren subtile Kommentierung der Freudschen Fall- und Begriffsgeschichte Roudinesco weitgehend unterschlägt. Statt dessen setzt sie einiges daran, zu zeigen, daß Lacan seine Theorie Freud lediglich „aufgepfropft“ habe. Das ist das zentrale Anliegen ihrer Biographie: Roudinesco will Lacans Legitimation als Freud- Nachfolger in Frage stellen.
Um das Band zwischen Freud und Lacan zu zerschneiden, bezieht die Biographin sich auf Michel Foucaults Aufsatz „Was ist ein Autor?“. Foucault unterscheidet darin zwischen Wissenschaftlichkeit und Diskursivität. Während das Wiederlesen von Isaac Newtons Texten nichts an unserer Auffassung der Bewegungsgesetze und der Naturwissenschaft ändert, „modifiziert eine erneute Prüfung der Texte von Freud die Psychoanalyse“. Genau da sieht Roudinesco – in der Spur Derridas – den „blinden Punkt des Lacanschen Diskurses“, denn Lacan wollte bei Freud immer nur „ein Bereits-da seiner eigenen Aussagen wiedergefunden haben“.
Das Argument sticht nur scheinbar. Würde nämlich die Psychoanalyse bei jeder Weitergabe („Relektüre“) modifiziert, so ließe sich keinerlei Verbindlichkeit ihrer technischen Vorgehensweise mehr denken, und die Analyse würde zum x-beliebigen Hirngespinst, zum Abenteuerspielplatz für „Dekonstruktionen“. Dagegen war es gerade das Bestreben des späten Lacan, die Psychoanalyse zwecks Ausbildung von Analytikern zu formalisieren. Lacan glaubte, daß der Analyse eine spezifische Gesetzmäßigkeit innewohnt – die sich jedoch von der Subsumtionslogik der Wissenschaft strikt unterscheidet.
Um also die Analyse, die gemäß dem Foucaultschen Diktum nur um den Preis einer „Modifizierung“ vermittelbar ist, dennoch zu lehren, entwickelte Lacan ein
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paradoxales, mit dem universitären Wissen nicht kompatibles Verfahren: Der Mathematiker Kurt Gödel hatte erkannt, daß ein in sich geschlossenes System formaler Aussagen in dem Moment unvollständig erscheint, in dem seine Vollständigkeit bewiesen werden soll. In dieser in der Natur der Sache liegenden Unvollständigkeit erblickte Lacan ein „Wissen, das sich selbst nicht weiß“ und präzisierte damit die Auffassung des Freudschen Unbewußten. Die Formalisierung dieses Unbewußten spitzte Lacan durch sein paradoxes Diktum: „Es gibt keine Metasprache“ zu, dessen Dimensionen er in Form von sogenannten „Mathemen“ illustrierte. Diese Matheme konzeptualisieren den Widerspruch, der zutage tritt, wenn Subjektivität mit einer naturwissenschaftlichen Methode – etwa der akademischen Psychologie – erfaßt werden soll.
Mathematik und Psychose verwandt?
Daß die Matheme in paradoxer (und nicht in widersprüchlicher) Weise an die Mathematik anknüpfen, entgeht Roudinesco. Sie ist so einfältig, Lacans Matheme mit der verworrenen Periodenlehre von Wilhelm Fließ gleichzusetzen, dessen „Mathematik der menschlichen Sexualität“ auf eine krude Berechnung und Bezifferung des Seelenlebens hinausläuft. Das Unbewußte wird gemäß einem Bonmot Lacans jedoch entziffert und nicht mathematisch beziffert. Die Ahnunglosigkeit Roudinescos ist in diesem Punkt besonders eklatant. Denn auf der selben Seite geht sie auf den Mathematiker Georg Cantor ein, dem Begründer der Mengenlehre. Lacan verglich die Psychose Cantors mit einem der Mathematik innewohnenden Problem, das heute als unlösbar gelöst gilt. Cantor jedoch ist über der Suche nach der unmöglichen Lösung „verrückt“ geworden.
Die interessante These, Mathematik und Psychose seien strukturverwandt, entgeht Roudinesco, weil sie Lacans Begriffe nicht im Zusammenhang sieht. Statt dessen zerlegt sie das Werk in isolierte Partikel. Nach ihrem restringierten Verständnis von Historie hat Lacan sich bei den verschiedensten Denkern plagiierend bedient, um deren Konzepte in seinen Theoriebaukasten einzufügen. Wer Roudinesco als Einfühng in Lacans Denken liest, ist mit diesem Buch schlecht beraten.
Elisabeth Roudinesco: „Jacques Lacan. Bericht über ein Leben. Geschichte eines Denksystems“. Aus dem Französischen von Hans- Dieter Gondek. Kiepenheuer & Witsch, 832 Seiten, geb., 89 DM
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