Schreckliche Schönheit

Meisterhafte Erzählungen von John McGahern  ■ Von Bernhard Robben

In John McGaherns Kurzgeschichte „Korea“ schaut ein Mann aus einer Trambahn auf das Meer. Am Strand wächst Stechginster, und der Mann sieht, wie sich die Blütenschoten öffnen, ein Anblick, der ihn zutiefst bestürzt. Die aufplatzenden Schoten erinnern ihn an eine Hinrichtung, die er während des irischen Bürgerkrieges mitangesehen hat. Damals war er ein Gefangener und hatte damit gerechnet, am nächsten Morgen erschossen zu werden. Doch als es soweit war, wurden ein anderer Mann und ein weinender Junge, 16, 17 Jahre alt, in den Gefängnishof geführt. Ehe der Offizier den Befehl zum Schießen gab, stand der Junge mit verbundenen Augen stramm, und „als die Salve krachte, zerrte der Junge, wie um sich die Kugeln aus dem Herzen zu reißen, an seiner Uniformjacke, und die Knöpfe der Uniform flogen durch die Luft, bevor er vornüber auf sein Gesicht fiel“.

John McGaherns erste Version eines Prosatextes ist oft zwei, dreimal so lang wie die schließlich veröffentlichte Fassung. Jeder Satz wird von ihm getrimmt, alles Überflüssige gestrichen. Und wenn McGahern eine Metapher gebraucht – der blühende Ginster und die Jugend des Jungen, der Schrecken des Schönen, der an ein Yeats-Gedicht mahnen könnte, in dem es über Irland heißt, „eine schreckliche Schönheit ist geboren“ – so scheint der Autor davor ebenso zurückzuschrecken wie der Mann vor der Erinnerung, die der Ginster in ihm weckte. „Aufgabe des Schriftstellers ist es“, sagt McGahern, „das Bild, das uns bewegt, aus der Dunkelheit hervorzulocken.“

John McGahern hat fünf Romane geschrieben, einen Band „Collected Stories“, aus dem der Steidl Verlag mit „Die Bekehrung des William Kirkwood“ eine Auswahl vorgelegt hat, ein Theaterstück und das Filmskript zu seinem Roman „Der Pornograph“. Sein zweiter Roman, „Das Dunkle“, wurde gleich nach Erscheinen verboten; dabei hatte McGahern nur über einen Jungen geschrieben, der Priester werden will, seine Sexualität entdeckt und unter Schuldgefühlen leidet.

Schon bevor John McGahern mit seinem letzten Roman „Unter Frauen“ auf der Auswahlliste für den renommierten Booker-Preis stand, galt er als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Irlands. Er ist nicht ausschließlich Schriftsteller. Er besitzt etwas Vieh und 45 Morgen Land an einem See, nur wenige Meilen von jenem Ort entfernt, in dem er geboren wurde. Seamus Heaney, ein Landsmann aus dem Norden, verglich die Tätigkeit des Schriftstellers, der Zeile für Zeile die Seite füllt, einmal mit der Arbeit des Bauern, der Furche um Furche das Feld beackert. Und wie der Bauer Jahr für Jahr zum selben Stück Land zurückkehrt, so wendet sich John McGahern immer wieder aufs neue seinem Feld, seinen Themen zu. Für den Leser wird das Terrain dadurch mit jeder Geschichte vertrauter. Er glaubt immer wieder aufs neue dasselbe Dorf zu betreten, die kantigen Figuren mit ihren Schrullen bereits zu kennen, den Lehrer, der stets den Hut aufbehält, den Kneipier, der dem Schankraum verstohlen den Rücken zuwendet, um sich selbst ein Gläschen zu genehmigen, oder den Sergeanten vom Polizeirevier, der mit seinem Sohn in einem Bett schläft. Fast immer heißt einer von ihnen Moran. „Ich finde“, sagte John McGahern, „Wiederholung schafft Bedeutung.“ Vielleicht ist dies der Grund, weshalb seine Geschichten an aufplatzende Schoten erinnern, an aus dem Herzen gerissene Kugeln.

McGaherns Prosa ist eine Kette von Stilleben, kaum Handlung, kein Kommentar, keine Erzählerstimme, nur die Sache selbst, ein Ausschnitt der lebendigen Wirklichkeit, fast beliebig manchmal, aber stets sorgsam durchstrukturiert. Seine Geschichten geben Einblick in eine von Ritualen und Traditionen geprägte Welt, zeigen Szenen des Aufbegehrens und Scheiterns, Bilder der stillen Verzweiflung und der alltäglichen Unterdrückung, des leeren Glaubens und der anarchischen Sexualität. Natürlich sind es auch Geschichten über Irland, denn wo sonst könnte eine Liebesgeschichte spielen, in der das Pärchen sich nur unter einem Schirm bei Regen lieben kann? Kaum scheint die Sonne, und der Schirm liegt im trockenen Laub, geht die Liebe baden. Eine gewisse Schwermut bleibt da nicht aus, doch legt man das Buch aus der Hand, wird man wie der Mann, der nie den Hut absetzte, von einem rasenden Verlangen nach dem Leben gepackt – und so liest man weiter.

John McGahern: „Die Bekehrung des William Kirkwood“. Erzählungen. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, 160 Seiten, 28 DM