Der Terror als Lebensform

Psychogramm der Gewalt: Der Roman „Belfaster Auferstehung“ von Eoin McNamee  ■ Von Bernhard Robben

Es gab einmal eine Stadt, die war weithin berühmt für den Fleiß ihrer Bewohner. Emsig versponnen sie Flachs zu Leinen, das sie als strahlend unschuldiges Weiß auf den Bleichen auslegten, schufen in ihren Werften mächtige Schiffsleiber, die auf allen Weltmeeren anzutreffen waren. Die Reichen hausten in prächtigen Bauten, die man später viktorianisch nennen sollte, die Armen hausten in Slums am Fluß. Es war eine Stadt mit Geschichte, einer guten, einer bösen Geschichte, einer Geschichte, wie sie ähnlich auch andere Städte aufweisen können.

Doch dann schlug die Geschichte einen Knoten in ihren Lauf, und wer von nun an den Namen der Stadt hörte, der dachte nicht an Leinenstoff und nicht an die Titanic, er dachte an Heckenschützen, an Bomben und Tod, er dachte an Belfast.

Experten im Entziffern von Religion und Status

Der Bürgerkrieg hat Spuren hinterlassen. Die Konturen der Stadt wurden von Bomben aufgerauht, ihre Skyline geschliffen. Es ist ein Ort entstanden, in dessen Strukturen sich die Gewalt eingeschrieben hat. Und die Bewohner der Stadt haben sich dem angepaßt. Grau wie der Regen auf den Häuserwänden, stoisch oder verzweifelt wie das schwarze Wasser in der Belfaster Bucht, geduckt wie der Cave Hill.

Victor Kelly ist einer dieser Bewohner, er ist ihre Verkörperung, menschgewordenes Belfast. Und er ist Protestant, auch wenn sein Name nach einem Katholiken klingt und dieser Verdacht seine Eltern zwang, immer wieder umzuziehen, denn: „Es kam häufig vor, daß man auf der Straße angehalten und nach Namen und Adresse gefragt wurde. Die Einwohner der Stadt waren Experten im Entziffern der Hinweise auf Religion und Status, die in einer Anschrift enthalten waren. Religiös motivierte Killer gingen auf der gleichen Grundlage vor und suchten sich ihre Opfer nach der Straße aus, in der sie wohnten.“ Eine Adresse mußte gut gehütet werden, gerade so, als besäßen die Worte selbst geheime Zauberkraft. Ein Name war durchtränkt von Macht und versteckter Mißgunst.

Victor brachte seine Mutter zum Lachen, wenn er seine Helden aus den Cowboyfilmen nachahmte, ihren Gang imitierte, ihre lässigen Sprüche. In der Schule knöpfte er jüngeren Schülern die Monatsfahrkarten ab, um sie weiterverkaufen zu können. Autodiebstähle, Ladeneinbrüche und bald darauf die eigene Truppe und der erste Katholik, den er mit einem geklauten schwarzen Taxi aufgreift. Victor hat ein Armeemesser dabei. Später heißt es im Obduktionsbefund, die Leiche weise 124 sorgfältig plazierte Stichwunden auf, „regelmäßige Wundmale, wie die Schriftzeichen einer Geistersprache, in der die Eingebungen des Sterbenden direkt von den Lippen weg aufgzeichnet worden war“.

Gewalt wird zum Inhalt von Victors Leben, zu einer religiösen Kraft, die jene leeren Rituale füllt, die der allgegenwärtige, erstarrte Fundamentalismus eines bigotten Protestantismus in ihm hinterlassen hat. Die Gewalt hat in Victor eine neue Dimension angenommen, sie wird zu etwas Mythischem, der Mord ein sorgsames Ritual, das dem Opfer letzte Einsicht in das Leben schenkt, der Schmerz unerklärlich und doch erlösend wie in Kafkas „Strafkolonie“.

Ein Abstieg in den Bauch der Stadt

Der Roman wird in langen Rückblenden erzählt. Als man Victors Opfer entdeckt, verschweigt die Polizei aus Angst vor einer Massenhysterie die Details über ihren grausigen Fund. Zwei Journalisten, Ryan und Coppinger, halten diesen und die nachfolgenden Messermorde für den Ausdruck einer Gewalt, wie sie selbst in Belfast noch nicht dagewesen ist, und die beiden Journalisten beginnen zu recherchieren. Monatelang ziehen sie durch die einschlägigen Kneipen und hoffen auf einen Hinweis, doch ihre Ermittlungen verlaufen ergebnislos.

Mit jedem weiteren Tag aber versinken Ryan und Coppinger tiefer im Bauch der Stadt, gezeichnete Gestalten, die sich ihr Leben am Rande des Abgrunds eingerichtet haben. Rotgeränderte Augen, fuseliger Atem, Stoppelkinn und muffige Wäsche machen sie vor der verregneten Trostlosigkeit und dem steineren Schweigen der Straßen nahezu unsichtbar. Über Ryans Schreibtisch hängt ein Stadtplan, auf dem die religiös motivierten Morde der letzten Jahre verzeichnet sind, aber auch die Fluchtwege nach Bombenanschlägen, die Konfliktzonen, Grenzverläufe. Und wenn Ryan auf diesen Plan schaut, dann glaubt er, in seinen Markierungen die Grammatik einer Sprache zu erkennen. „Er wartete darauf, ihre kehligen Laute auf den Straßen zu hören. Er stellte sich vor, in ihr angesprochen zu werden. Sie würde geheimnisvoll, leiderfüllt und bedrohlich klingen.“

Doch selbst als Ryan in der Kneipe der paramilitärschen „Einheit“ landet und mit der Freundin des Killers ins Bett geht, kann er die Sprache nicht hören, ist er taub für das Unerhörte. Ebendiese Sprache hat in der „Belfaster Auferstehung“ zu Wort gefunden.

Es bleibt nicht bei einer Leiche. In der Stadt geht das Gerücht von den „resurrection men“ um, den Auferstehungsmännern, benannt nach jenen Banden in England zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die Leichen aus frisch ausgehobenen Gräbern stahlen und sie an anatomische Institute verkauften. Die leeren Gräber gaben ihnen den Namen, denn die Trauernden wollten lieber glauben, die Toten seien auferstanden, der Jüngste Tag sei da, der Tag des Gerichts angebrochen. Nach Victors Tat steigt aus dem kollektiven Gedächtnis die Erinnerung an die „resurrection men“ auf, und die Stadt zieht ihr Resümee, ihre Mauern schwitzen ein Graffito aus: „Auferstehungsmänner 1 – Katholen 0“.

Jenseits der annehmbaren Gewalt

Victor hat sich einen alten Traum erfüllt, seine „Aktionen“ schaffen es bis auf die Titelseiten, und für den Journalisten Ryan nehmen die Messermörder allmählich Gestalt an. „Es schien, als habe die Stadt selbst beschlossen, für sie eine Persönlichkeit zu finden, ihnen Rollen zuzuweisen, ein Drehbuch zu schreiben, das sie durch eine Spielzeit künftigen Unheils begleiten würde.“

Doch weder Polizei noch Journalisten können Victor etwas anhaben. Er kann sich nur selbst gefährlich werden. Zu weit hat er sich vom „annehmbaren Gewaltniveau“, von der tolerierten Gewalt der Sektierer entfernt, deren verschworene Gemeinschaften es nicht dulden können, wenn sich einer aus ihrer Mitte über sie zu erheben versucht. Man kümmert sich also um ihn auf die Belfaster Art.

Belfast? Ach was, wer diesen Roman gelesen hat, der weiß, daß mit Belfast auch Beirut gemeint ist oder Mostar, Grosny, Brooklyn oder Palermo. In einem Stil, der sicher zwischen geradlinigem Realismus und metaphorischen Tiefen changiert, beschreibt „Belfaster Auferstehung“ einen Ort der Gewalt in der zweiten, dritten, vierten Generation, in dem der Terror zur alltäglichen Lebensform geworden ist.

An diesem Ort wurde der Jüngste Tag, der Tag des Gerichts, zum immer wiederkehrenden Alltag; die Zukunft bleibt auf unbestimmte Zeit vertagt.

Eoin McNamee: „Belfaster Auferstehung“. Roman. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Rotbuch Verlag, 260 Seiten, geb., 38 DM