Gott ist wohl doch nicht tot

Rückkehr des allwissenden Erzählers: Frank Ronans „Dixie Chicken“, das Leben eines charmanten Sünders, von ganz oben her erzählt  ■ Von Bernhard Robben

Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Daß ich das überhaupt tun muß, wirft ein trauriges Licht auf die Zeiten, in denen wir leben. Die meisten von Ihnen werden mich als Gott kennen, und diese Bezeichnung muß für den Augenblick genügen. Einigen Gerüchten meine Person betreffend muß ich sogleich widersprechen: Ich bin nicht tot, und ich bin nicht Eric Clapton! Ich habe nur lange Zeit geschwiegen.“

Damit ist es vorbei, der liebe Gott konnte den Mund nicht länger halten, er mußte sich die Geschichte von Rory Dixon einfach von der Seele reden, dieser alternde Voyeur, also erzählt er – und wie er erzählt!

Auch ER ist für Abwechslung dankbar

Seit Ewigkeiten langweilt ihn das Schauspiel vom Leben und Vergehen der menschlichen Rasse, aber als in Irland, „diesem kleinen Stück Himmelreich, das vom Himmel fiel“, Rory Dixon in einem Stall geboren wird, erwacht Gott aus jahrhundertelangem Dämmer. Vielleicht liegt es daran, daß der Stall Erinnerungen an einen anderen Charmeur weckt, der ihn vor ein paar Jahrtausenden für eine Weile zu amüsieren vermocht hat, mag sein, gewiß aber liegt es auch an Rory Dixon selbst und seiner magnetischen Anziehungskraft, die alle Frauen – nicht nur die Frauen übrigens – in seinen Bann schlägt.

Ein höchst unwürdiger Erleuchteter

Rory versteht es, das Leben der menschen allein durch seine bloße Gegenwart zu verändern, er bringt das Animalische in ihnen zum Vorschein, so daß sie alle Konventionen und Tabus vergessen und das Leben mit ihm in vollen Zügen genießen können. Mag sein, daß Gott auch nur eifersüchtig auf Rory Dixon ist, der die Menschen so leichthin zu faszinieren weiß – etwas, das ihm selbst schon lange nicht mehr gelingt. Gottes Geschichte aber beginnt mit dem Tod seines Lieblings.

In seinem blauen Spider ist Rory bei Blackrock über die Klippen hinaus ins Meer geschossen. Der Wagen wird von den Felsen aufgespießt, der bewußtlose Rory hängt halb aus der Tür und ertrinkt in der Flut. Im Autoradio dödelt „Dixie Chicken“, sein Lieblingssong von Little Feat. Als Helen die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbracht wird, lautet ihre erste Frage wie selbstverständlich: „Wer hat ihn umgebracht?“

Der liebe Gott nimmt diese Frage auf und hält die Leser im Ungewissen. Dabei ist er ja nicht nur allgegenwärtig, sondern auch allwissend, so daß er uns des Rätsels Lösung gleich im zweiten Satz nennen könnte, aber Gott ist traurig. Und so läßt er sich ein wenig Zeit – davon hat er ja genug. Mit „Dixie Chicken“ schreibt sich Gott den Kummer von der Seele, denn er muß von Rory Abschied nehmen.

Sein Wille geschieht – aber ziemlich selten

Er kann zwar einen Atheisten und auch so manchen Bösewicht in seinen Himmel holen lassen – die sind ihm ehrlich gesagt sogar weit lieber als alle staubtrockenen, bibelfesten Langweiler zusammengenommen –, aber Rory gehört zu jener Kategorie von Toten, von denen selbst Gott nicht weiß, wohin sie nach ihrem Ableben verschwinden. Gott ist eben auch nur Gott, und sein Wille geschieht selten. Warum er Rory Dixon nicht retten konnte, erfährt der Leser allerdings erst am Ende des Buches.

Vorher spannt Gott ihn auf die Folter. War es tatsächlich Mord? Wenn ja, wer könnte ein Motiv gehabt haben, diesen charmanten Mann umbringen zu wollen? Da dem lieben Gott natürlich nichts verborgen bleibt, macht der Leser Bekanntschaft mit Rorys Freunden, mit Kay und ihrem Mann Jody, die beide eine Affäre mit Rory hatten, ohne daß die andere Ehehälfte darüber Bescheid wußte. Wir begegnen Corinna, Rorys Tochter, die sich von ihrem Vater auf eine Weise lieben ließ, die das Gesetzbuch nicht toleriert und die sich während einer Geburtstagsfeier ihres Daddys umbringen will, nur um in den letzten Sekunden ihres Lebens ihrem Mörder die Badezimmertür aufzuschließen. Wir treffen den Fischer Alan, der Rorys Leiche aus dem blauen Spider befreit und selbst noch vom Toten sexuell erregt wird, als er mit ihm im Lebensrettergriff zu seinem Fischkutter schwimmt, und wir machen mit Rorys Eltern Bekanntschaft, die die Nachricht von seinem Tod aus ihrem Ashram in Manantavaddi in Indien zurück nach Irland bringt.

Ein scharfes Mittel gegen Irland-Kitsch

Seit Flann O'Brien hat kein Ire eine schärfere Satire auf die grüne Insel geschrieben als Frank Ronan. Was für eine Wohltat ist dieses Buch! In keiner Zeile gibt es Platz für diese weit verbreitete, dumpfduselige Irland-Seligkeit. Hier werden nicht endlos Volkslieder geblökt und mit wässrigen Augen keltische Märchen erzählt. „Dixie Chicken“ ist gnadenlos frech und böse. Er kennt keine Rücksichten, stellt korrupte Politiker bloß, zeigt die Jungs von der IRA als einen Haufen, der Waffengeschäfte mit Koksdealereien finanziert und nennt die Apostel eine „Truppe blökender Nullen“ – und das in einem Land, in dem im heißen Sommer von 1985 die halbe Bevölkerung noch daran glaubte, die Marienstatuen in den zahllosen Grotten der Insel seien plötzlich mit nervösen Gliedmaßen gesegnet.

Wenn der Leser das Buch zuklappt, dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als „Dixie Chicken“ zu dödeln und zu hoffen, daß Gott bald mal wieder den Mund aufmacht. Frank Ronans nächstes Buch ist in Vorbereitung.

Frank Ronan: „Dixie Chicken“. Roman. Aus dem Englischen von Mechthild Kühling. Eichborn Verlag, 262 Seiten, geb., 34 DM