: Bahnchaos auf der Strecke Hamburg-Berlin
■ Vermeidbare Pannen machen den neuen Winterfahrplan zur Lachnummer
Ab 29. September, so hatte es die Deutsche Bahn (DB) versprochen, sollte die Fahrzeit zwischen den beiden größten deutschen Metropolen von nostalgischen 220 auf zukunftsweisende 161 Minuten zusammenschnurren. Fahrgäste erleben dagegen auf der für mehrere hundert Millionen Mark ausgebauten Strecke zwischen Hamburg und Berlin derzeit Fahrplanchaos pur. 15 bis 30 Minuten Verspätung sind schon bei der Abfahrt die Regel.
Den Vogel schoß am 2.Oktober der IC 812 „Wetterstein“ ab: Statt fahrplangemäß um 21.07 Uhr in Hamburgs Hauptbahnhof einzulaufen, zeigte die Uhr 22.55 Uhr: satte 108 Minuten Verspätung. Schon in Nürnberg hatte er 40 Minuten Rückstand eingesammelt und diese über Berlin und Potsdam bis Hamburg zielstrebig vergrößert. Ein Bahnsteigbeamter sarkastisch: „Die haben heut halt alle ein bißchen Verspätung.“ Ein kostspieliger Spaß: Den Fahrgästen des IC 812, die ihre Zielorte, zum Beispiel Perleberg, Eckernförde oder Wester- land mangels Nachtverbindungen, nicht mehr erreichen konnten, mußte die DB Taxis oder Hotelzimmer spendieren.
Eine Bahnsprecherin, um Schadensbegrenzung bemüht: „Wir werden die Anfangsschwierigkeiten Ende der Woche behoben haben.“ taz-Recherchen belegen jedoch, daß auch diesmal jene systematische Schlamperei und Rückständigkeit Pate steht, über die sich Bahnexperten wie Klaus Nötzold, DB-Regionalplanungschef für Schleswig-Holstein, oder Norbert Hansen, Vizechef der Eisenbahnergewerkschaft GdED seit Jahren aufregen: Überaltertes Fahrzeugmaterial, veraltete Technik in den Knotenbahnhöfen, mangelnde Kundenorientierung, übertriebener Fahrplanehrgeiz und internes Organisationschaos ergeben laut Nötzold und Hansen jene Gemengegelage, die Pannen und Verspätungen schon beinahe zur Regel macht.
Um schneller nach Berlin zu kommen und die elektrischen Oberleitungen auf einem Teil der Strecke zu nutzen, fährt die DB seit dem 29. September mit einer zuvor nicht erprobten eigenartigen Kombination aus elektrischem Steuerwagen und alten DDR-„Taiga“-Dieselloks. Das Ergebnis: Ein spezielles Notstromaggregat im IC-Speisewagen verhindert, daß die elektrischen Signale des Steuerwagens zum Dieseltiger Taiga durchdringen. 15 bis 30 Minuten dauert es, bis Techniker jeweils eine Notüberbrückung gebastelt haben. Die Bahnsprecherin verspricht Besserung: „Unsere Techniker und die Herstellerfirma arbeiten an einer Überholung der Steuerwagen.“
Weil die Hamburg-Berlin-Intercitys zudem jetzt meist gleich bis München durchfahren, werden Verspätungen in beide Richtungen weitergeschleppt. Werden dann noch kaputte Züge nicht ausgetauscht, sondern bis zum Endbahnhof durchgequält, sind Rekordverspätungen programmiert. Die DB reagierte auf ihre technischen Probleme nämlich nicht mit Ersatz-Zügen, sondern bastelt während des Einsatzes an ihnen herum.
Warum die DB nicht wenigstens dann einen Ersatzzug einsetzt, wenn sie schon Stunden vorher von Defekten und Verspätungen weiß, wie am Dienstagabend beim IC 812? Die Bahnsprecherin antwortet entwaffnend ehrlich: „Da hatten wir leider kein Ersatzmaterial.“ An einem Dienstag hat die DB AG in Deutschlands Hauptstadt keinen Reserve-Intercity zur Verfügung?
Bahninsider können da längst nicht mehr lachen. Daß sich das selbsternannte „Unternehmen Zukunft“ auf dieser Strecke – prädestiniert für einen einträglichen Kampf gegen die Dinosaurier Auto, Transrapid und Flugzeug – eine Panne nach der anderen leistet, grenzt beinahe an Selbstverstümmelung. Den Fahrgästen bleibt nur nacktes Staunen: 1996 hat die Bahn zwischen Hamburg und Berlin – vorausgesetzt, sie fährt pünktlich – gerade mal das Geschwindigkeitsniveau von 1919 erreicht. Mehr als die bereits vor 64 Jahren mit dem diesel-elektrischen „Fliegenden Hamburger“ erreichten 138 Fahrzeitminuten sind auch für die Zukunft nicht angepeilt. Florian Marten
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