Der langsame Niedergang des Gerd P.

Ein schwerkranker Mann verwahrlost in seiner Neuköllner Wohnung. Die Nachbarn befürchten Seuchengefahr und Brände. Ins Heim will er nicht. Die Behörden sind seit langem informiert, bleiben aber untätig  ■ Von Tim Köhler

Ein Haus in der Wissmannstraße in Neukölln. Gerd P. öffnet die Tür. Es herrscht ein beißender Gestank: Der 66jährige schwerkranke Mann lebt inmitten von verschimmelten Essensresten, die bevölkert sind von Ungeziefer. Überall, in der ganzen Wohnung verstreut, liegen alte Kippen und leere Schnapsflaschen. Die Wände sind kotverschmiert. Die Küche ist dunkel wie die ganze Wohnung. Es gibt keine Glühbirnen.

Zieht man die Gardine in der Küche etwas beiseite, sieht man wimmelnde Klumpen von Fliegen und Maden auf der Fensterbank. Die verdreckte Couch ist übersät von Brandflecken. Ein verkohlter Papierteller liegt auf dem Fußboden.

Gerd P. läuft der Speichel aus dem Mund. Vor drei Jahren hatte er einen Schlaganfall. Die linke Seite ist betroffen. Laufen kann er, wenn auch wackelig, aber die linke Hand ist steif. Mit fahrigen Bewegungen sucht er in einem Berg Papieren nach einem ärztlichen Gutachten. Mühsam, denn er kann offensichtlich kaum etwas sehen. Das eine Brillenglas ist kaputt.

Aber er findet das Papier: Der Psychiater Dr. Ihlhoff erstellte am 15. Juli dieses Jahres im Auftrag des Amtsgerichts Neukölln ein Gutachten. Ergebnis: „Gerd P. leidet unter einer depressiven Persönlichkeit mit starker Verwahrlosungstendenz, Persönlichkeitsverflachung und Suchtstruktur sowie chronischem Alkoholismus.“

Aufgrund des Gutachtens wurde eine Amtspflegschaft eingerichtet. Doch der beauftragte Amtspfleger war bis heute noch nicht bei Gerd P. „Kommt ja doch niemand her. Die labern nur rum“, sagt er wütend. Aber er will nicht raus aus seiner Wohnung. „Ich fühle mich hier wohl“, sagt er völlig überraschend. Der Mann ist so krank, daß er seine Verwahrlosung offenbar nicht wahrnimmt.

Aber man kann ihn nicht zwingen, in ein Heim zu gehen. Dr. Ihlhoff schreibt in seinem Gutachten, daß es aufgrund der mangelnden Kooperationsbereitschaft des Manns zwecklos sei, ihn einer Alkoholentzugstherapie zu unterziehen. Es mache daher auch keinen Sinn, ihn zwangsweise aus seiner Wohnung herauszunehmen. Dabei verwahrlost Gerd P. zunehmend.

„Früher war er ein ordentlicher Mann. Er bohnerte sogar vor der Haustür“, erklärt ein Nachbar. Vor sieben Jahren fing er an zu trinken. Heute ist der ehemalige Kraftfahrer Rentner. Vor einem Jahr zog seine Frau aus. Seitdem ist er ganz allein. Nach Auskunft der Nachbarn verläßt er seine Wohnung nur noch, um Schnaps zu kaufen.

Die Nachbarn leiden unter ihm. Sie wollen, daß Gerd P. in ein Heim kommt. Sie fühlen sich durch ihn massiv belästigt. Und sie haben Angst. Ende August schrieben vier Mietparteien an die Neuköllner Gesundheitsstadträtin Stefanie Vogelsang (CDU). Von P.s Wohnung gehe Seuchengefahr aus, befürchten sie. Das Ungeziefer sei bereits in die Nachbarwohnungen vorgedrungen. Der Brief blieb bis heute unbeantwortet.

Außerdem beklagen die Nachbarn die ständigen nächtlichen Lärmbelästigungen durch herumfliegende Flaschen und P.s aggressive Beschimpfungen („Ich knall' euch alle ab! Heil Hitler!“).

Doch am meisten befürchten sie einen neuerlichen Brand. Weihnachten 1993 brannte die gesamte Wohnung von Gerd P. aus. Die Brandursache blieb unklar, aber die Nachbarn sind sich sicher, daß es Fahrlässigkeit des meist betrunkenen Nachbarn war. Seitdem gab es immer wieder Schwelbrände. Mehrfach verständigten die Nachbarn die Polizei. Zuletzt im Mai dieses Jahres. „Bei Betreten der Wohnung hat der eine Beamte um ein Handtuch gebeten, weil es dort so gestunken hat“, erklärt Nachbar Michael B. Die Beamten der Direktion 5 in der Rollbergstraße machten Fotos von der Wohnung und versicherten, den Fall an das Gesundheits- und Wohnungsaufsichtsamt weiterzuleiten. Von deren Seite ist aber bis heute nichts Ersichtliches geschehen.

Der Sozialpsychiatrische Dienst habe sich vergeblich darum bemüht, die Amtsvormundschaft auszuweiten, so daß der Vormund auch den Aufenthalt von P. bestimmen könne, erklärte die Pressesprecherin des Neuköllner Bezirksamtes, Bianka Schlichting. Dann hätten die Behörden die Möglichkeit, Gerd P. gegen seinen Willen in einem Pflegeheim unterzubringen. Das Amtsgericht Neukölln hat aber aufgrund des Gutachtens von Doktor Ihlhoff eine derartig weitgehende Entmündigung abgelehnt. Etwas anderes als Zwangsmaßnahmen scheint den Sozialbehörden Neuköllns bisher nicht eingefallen zu sein.

Und Gerd P. kämpft. Mit anwaltlicher Hilfe gelang es ihm nach Aussage der Neuköllner Pressesprecherin bereits vor zwei Jahren, eine ähnliche Initiative des Sozialpsychiatrischen Dienstes abzuwehren.

„Nach dem Brand damals saßen die P.s in ihrer ausgebrannten Wohnung. Es war mitten im Winter. Die Fenster waren offen, sie hatten nur eine Petroleumlampe. Aus der Klinik, in die man sie gebracht hatte, waren sie sofort wieder geflohen“, erzählt Mario P., ein Nachbar von Gerd P. Ihm habe der Mann immer leid getan. Inzwischen überwiege aber die Wut auf den Kranken.

Die Psychologin Anna Volk von der Neuköllner Alkoholberatungsstelle wollte gestern keine Auskunft zu dem Fall geben. Sie sagte nur, es gebe viele Klienten in Neukölln, die in solchen Verhältnissen leben, und man könne nichts gegen deren Willen tun. Nach Auskunft des Sozialmedizinischen Dienstes wird Gerd P. seit Jahren betreut. Erst kürzlich habe man den Fall der Alkoholberatungsstelle übergeben. Der Leiter des sozialpsychiatrischen Dienstes, Dr. Zetzmann, wollte aber keinerlei Auskunft geben.

Ebensowenig wie die zuständige Amtsärztin im Neuköllner Gesundheitsamt, Frau Dr. Brand: „Mir ist die Angelegenheit bekannt. Wir sind da tätig“, war alles, was sie sagen wollte. Mehr könne sie ohne das Einverständnis von Gesundheitsstadträtin Vogelsang nicht sagen. Die ist bis nächste Woche im Urlaub.

Kein Behördenvertreter sah sich in der Lage, eine Stellungnahme abzugeben. Dabei ist der Fall den Behörden seit Jahren bekannt. Ohne daß etwas geschieht. Neuköllner Normalität?

„Die wollen ihn nur nicht in einem Heim unterbringen, weil das für den Bezirk teurer wäre“, vermutet Christa H., die Nachbarin, die genau über Gerd P. wohnt. Ihre Wohnung wurde durch den Brand im Dezember 1993 derartig geschädigt, daß sie ausziehen und ihre Wohnung von Grund auf renovieren mußte.

Von P.s Haftpflichtversicherung hat sie dafür bis heute keinen Pfennig gesehen. Die Nachbarn, die in der Wohnung unter Gerd P. leben, haben auch Angst. „Unser 13jähriger Sohn steht nachts im Bett, weil es wieder so poltert. Er hat den Brand damals mitgekriegt.“

Die Mieter erwägen eine Mietminderung, um die Hausverwaltung dazu zu bringen, endlich etwas zu unternehmen. Die Verwaltung des Hauses hatte in den vergangenen Jahren häufig gewechselt, weil die jeweiligen Eigentümer pleite gegangen waren.

Die jetzige Verwaltung, Voet & Partner, ist eine gerichtlich eingesetzte Zwangsverwaltung. „Der Bezirk tut nichts. Wir können nichts machen. Das, was rechtlich möglich ist, tun wir. Herrn P. haben wir bereits fristlos gekündigt. Als nächstes wird die Räumungsklage kommen. Mehr können wir nicht tun“, erklärt der Rechtsanwalt und Hausverwalter Jan Dirk Voet.

Die Pressesprecherin des Bezirksamts, Bianka Schlichting, versicherte gegenüber der taz, daß in der nächsten Woche eine neuerliche Begehung der Wohnung unter Leitung des Neuköllner Gesundheitsamtes anberaumt ist. Vielleicht werden die Behördenvertreter dann erkennen, daß Gerd P. dringend Hilfe braucht.