Die Frist ist abgelaufen

■ Der bosnische Flüchtling Zlatan Kurt sieht keine Chance für eine baldige Rückkehr. Orientierungsreisen sind für viele ein Schock

Auf dem winzigen Tisch in Zimmer 14 steht ein großer Tageskalender. Jeden Morgen reißt Zlatan Kurt* ein Blatt ab. Jeden Morgen begrüßt ihn ein flotter Spruch oder ein gutgemeinter Ratschlag. Doch seit Anfang dieser Woche erfüllt der Kalender für Zlatan Kurt nur noch einen unangenehmen Zweck. Blatt für Blatt, Tag für Tag wird er daran erinnert, daß die Frist abgelaufen ist. Seit dem 1. Oktober können Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien, die einer Ausreiseaufforderung nicht freiwillig nachkommen, zwangsweise abgeschoben werden.

Obwohl die Innenverwaltung angekündigt hat, daß die ersten Flüchtlinge erst im Verlauf der nächsten Wochen „zurückgeführt“ werden, hilft Zlatan Kurt diese winzige „Galgenfrist“ nur wenig weiter. „Ich kann nur voller Risiko in meine Heimat zurück“, sagt der 45jährige Muslim etwas hilflos. Er wischt mit einer schnellen Handbewegung über die Landkarte, die an der Wand seines Zimmers im Wohnheim hängt, als könne er die neuen Grenzen einfach auslöschen. Seine „Heimat“ liegt jetzt in der von bosnischen Serben ausgerufenen Republik Srpska, aus der 60 bis 70 Prozent der bosnischen Flüchtlinge stammen.

Zlatan Kurt kommt aus einer kleinen Stadt mit 40.000 EinwohnerInnen, in der vor dem Krieg zwei Drittel Muslime und ein Drittel Serben gelebt haben. Jetzt sind es nur noch eine winzige Minderheit, etwa 2.000 Muslime. „Was kann ich dort denn arbeiten“, fragt der Mann mittlerweile fast wütend und rückt voller Tatendrang sein braunes Jackett zurecht. Dann fällt er wieder in sich zusammen und starrt auf die Karte: „Ich habe dort nichts mehr, keine Wohnung, kein Land.“ Ein Alptraum verfolgt Zlatan Kurt, seitdem er in dem Steglitzer Wohnheim lebt. Es ist immer wieder die gleiche Szene: „Ich laufe durch meine Stadt, und die Leute auf der Straße sind mir unbekannt. Wenn ich einen Muslim sehe, den ich kenne, darf ich seinen Namen nicht laut aussprechen.“

Dieser schreckliche Traum, auch ein Ausdruck seines psychischen Befindens nach der Flucht Ende 1993 nach Berlin: Mit den HeimbewohnerInnen hat der Jurist, der in Belgrad studiert hat, anfangs nur wenig, mit Deutschen gar nicht gesprochen. Zu groß waren seine Schuldgefühle, daß er seine Familie verlassen hat. Kurz nach Beginn des Krieges im Frühjahr 1992 wurde das Städtchen, in dem Zlatan Kurt lebte, von den bosnischen Serben besetzt. Er durfte noch drei Monate in Stadtverwaltung arbeiten, dann wurden alle Muslime aus den öffentlichen Ämtern entlassen. Dann wurden in unregelmäßigen Abständen, manchmal jeden Tag, manchmal nur einmal in der Woche, muslimische Frauen und Männer auf Lastwägen abtransportiert. Wohin, hat Zlatan Kurt nie erfahren. Seine Angst vor Übergriffen wuchs von Tag zu Tag. Deshalb versteckte er sich im November 1992 in einem Zimmer eines alten Hauses, daß baufällig und deswegen für die Belagerer uninteressant war. Ein Jahr lang wurde er von seiner Mutter mit Nahrung, Kleidung und Büchern versorgt. Nur nachts wagte er sich manchmal aus dem Zimmer und saß für ein paar Stunden im Hof. Doch dann hielt es Zlatan Kurt auch in dem kleinen stickigen Zimmer nicht mehr aus – die Angst, entdeckt zu werden, wurde zu groß. Mit falschen Papieren flüchtete Hals über Kopf nach Deutschland, kommt nach Berlin.

Erst nach einem Jahr rappelt er sich auf, hat das Leben im Versteck und die Flucht ein wenig verarbeitet. Er verläßt das Wohnheim für Spaziergänge, sucht Kontakte, auch mit Deutschen. Mittlerweile spricht er fast fließend deutsch. Er hilft den anderen Flüchtlingen bei Behördengängen, unterstützt und berät in juristischen Fragen.

Zlatan Kurt möchte zurück nach Bosnien, unbedingt, doch nur in seine Heimatstadt. Doch in Sarajevo oder Tuzla könne er sich im Moment nicht vorstellen, zu leben. Erst müßten die Binnenflüchtlinge – rund 1,4 Millionen – wieder einen gesicherten Platz im Land finden, und nicht mehr in Containern, in Turnhallen und kaputten Häusern hausen. „Erst dann können die Flüchtlinge aus Deutschland zurückkehren und haben die Möglichkeit eine Existenz aufzubauen“, sagt er bestimmt.

Auch Micky Softic* und Jasna Hamzic*, die mit ihren drei kleinen Kindern in zwei kleinen Zimmern nebenan wohnen, teilen Kurts Einschätzung über die Lage in Bosnien. Seit einigen Wochen gibt es die Möglichkeit jeden Freitag mit dem Bus vom zentralen Omnibusbahnhof am Kaiserdamm in 30 Stunden nach Tuzla fahren. Kostenpunkt: 300 Mark pro Ticket. Beide haben auf eigene Kosten eine solche sogenannte Orientierungsreise gemacht. Micky Softic, der vor dem Krieg mit Textilien aus der Türkei und Italien gehandelt hat, war entsetzt von den Verhältnissen. In Tuzla hat er unzählige Videokassetten mit kaputten Häusern und zerstörten Straßen aufgenommen, die er den anderen BewohnerInnen zeigt. Er möchte partout nicht zurück.

Der 31jährige, der schon seit drei Jahren in dem Wohnheim lebt, träumt davon, in ein drittes Land weiterzureisen und dort ein neues Leben zu beginnen. In Kanada oder Australien würde er gerne ein Haus bauen, wieder richtig arbeiten und Geld verdienen. Seine Lebensgefährtin, die genauso wie Micky Softic kein einziges Wort Deutsch spricht oder versteht, ist mit den Auswanderungsplänen überhaupt nicht einverstanden: „Ich möchte zurück zu meiner Familie“, läßt sie von Zlatan Kurt übersetzen. Und: „Wenn Micky nicht mitkommt, gehe ich alleine mit den Kindern zurück.“ Dann grinst sie etwas verlegen und versucht ihrem Freund nicht in die Augen zu blicken.

Micky Softic hat sich noch nicht informiert, ob es überhaupt möglich ist, in ein drittes Land überzusiedeln. Warum er das nicht tue, wisse er auch nicht und zuckt mit den Schultern. Zlatan Kurt schätzt seine Situation dagegen realistischer ein: „Ich werde einer der ersten sein, die abgeschoben werden.“ Zlatan Kurt ist ledig und gehört deshalb in die „Kategorie“ derer, die als erste in den nächsten Wochen nach Bosnien-Herzegowina „zurückgeführt“ werden. Julia Naumann

* Namen von der Red. geändert