„Good Old Labour“ in den Startlöchern

Der Labour-Parteitag demonstriert Einheit. Aber der Machtkampf von links hat schon begonnen  ■ Aus Blackpool Dominic Johnson

Die Basis ist rot. Die Wand hinter dem Podium im Parteitagssaal der britischen Labour- Opposition in Blackpool fängt unten in einem tiefen Rot an, das nach oben hin erblaßt und schließlich an der Spitze in ein lichtes Grau aufgeht. Damit keiner daraus unangebrachte Schlüsse zieht, sitzt die Parteispitze selber auf dem Podium vor einer zweiten Wand aus reinem Weiß.

Auch sonst ist Rot allgegenwärtig – fast. Rote Scheinwerfer leuchten in den Saal, rote Fahnen hängen von Balkonen und Logen. „New Labour“ steht darauf und dann „neue Hoffnung“ oder „neue Chancen“ oder, etwas mysteriöser, „neues Wales“. Die Fahnen schwingen nicht, es herrscht Windstille. Und einer Fernsehkamera ist es nicht möglich, Tony Blair zusammen mit einer roten Fahne einzufangen. In der Nähe des Rednerpultes gibt es keine Fahnen, sondern nur einen großen Bildschirm. Darauf werden den Delegierten Videofilme über New Labour gezeigt. Wenn Blair spricht – er spricht nur einmal –, prangt auf dem Bildschirm die britische Nationalflagge.

„New Labour, neue Sicherheit“ steht auf einer der roten Fahnen. Da ist was dran: Noch nie waren die Sicherheitsvorkehrungen bei Labour so streng wie auf diesem Parteitag. Eine private Sicherheitsfirma durchleuchtet an den Eingängen Taschen und prüft Hände auf Sprengstoffspuren. Lange Schlangen bilden sich; wer keinen Ausweis hat, bleibt draußen, und wenn er zum Labour-Schattenkabinett gehört. Wer keinen goldenen Ausweis hat, sondern nur einen ordinären roten oder gelben, kommt auch gar nicht in Tony Blairs Gemächer im zweiten Stock des Imperial Hotels. Und goldene Ausweise haben zwar Blair und seine Berater, nicht aber seine zukünftigen Minister und schon gar nicht normale Delegierte. „New Labour“ bleibt den Delegierten unerreichbar.

Umgekehrt gilt das nicht. Die Führung hat das Parteivolk im Griff. „Na ja“, meint eine dickliche Delegierte mit roten Haaren und einem pazifistischen Metallumhänger, der bei den Eingangskontrollen erhebliche Probleme verursacht, „das Ganze ist doch ein ziemlicher Witz.“ Bevor die Delegierten nach Blackpool reisen, gehen sie zu Regionaltreffen, wo ihnen gesagt wird, wie sie sich zu verhalten haben. Wenn sie in Blackpool angekommen sind, wird es ihnen noch mal gesagt. Wenn Abstimmungen anstehen, erklärt der Versammlungsleiter, was die Führung „empfiehlt“. Vor jeder Abstimmung wird die Empfehlung wiederholt. So trauen sich kaum drei oder vier Delegierte, die Hand zur Gegenposition zu heben. Nur bei geheimen Abstimmungen erhalten Blair-kritische Resolutionen plötzlich 45 oder 47 Prozent. Verlieren tun sie trotzdem.

„Jeder weiß: Dieser Parteitag handelt von Einheit!“ ruft Matt Carter, ein junger Schnösel im feinen Anzug aus Yorkshire, ins Mikrophon, als die Debatte über das besonders kontroverse Thema Renten und Kindergeld eröffnet wird. „Der Zweck unserer Partei muß sein: Einheit, Einheit, Einheit!“ brüllt Phil Woolas, junger Parlamentskandidat und einstiger Chef der britischen Studentengewerkschaft, um die rebellierenden Rentner in die Schranken zu weisen – sie fordern die von der Führung nicht gewünschte Wiederankoppelung der staatlichen Grundrente an die Lohnentwicklung. Ein Antragsteller läßt sich tatsächlich davon überzeugen, seine kritische Resolution zurückzuziehen: „Ich bin fest davon überzeugt, daß wir euch vertrauen können“, sagt er in Richtung Führung.

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. So arbeitet New Labour. Nicht alle finden das gut. Eine vor wenigen Monaten gegründete parteiinterne Gruppierung namens „Labour Reform Group“ beklagt auf ihrer Versammlung die „Beherrschung der Partei durch kleine Gruppen von London-gestützten Profi-Politikern, ungewählten Beratern und bezahlten Lobbyisten“. Roy Hattersley, bis 1992 unter Neil Kinnock Vizeführer der Partei, sagt, es sei unerträglich, wenn Labour „eine halbe Idee besitzt, die zwei Drittel ihrer Mitglieder mit vollem Herzen unterstützen, und sich scheut, das zu artikulieren“.

Als Hattersley noch zur Parteiführung gehörte, galt er mit seinem Beharren auf konkrete Chancengleichheit anstatt abstrakter Systemveränderung als Vertreter der Rechten. Heute sagt er dasselbe und zählt damit zur Linken. Viele derjenigen, die in den 80er Jahren die Abkehr Labours von altlinker Apparatschikpolitik betrieben, beäugen heute in Blackpool mißtrauisch die Wiederkehr dieses Politikstils aus Einstimmigkeit und Hinterzimmerdeals.

Die Ultralinken von damals sind dagegen völlig marginalisiert. Arthur Scargill, Führer der Bergarbeitergewerkschaft und ärgster Feind Margaret Thatchers, der noch vor wenigen Jahren regelmäßig sozialistische Tiraden in Labours Parteitagsmikrophone rief, ist nicht einmal mehr in der Partei. Seine Stunde schlägt weit weg, im „Blackpool Trades Club“ im schummrigen Süden der Stadt. Dort blitzt und donnert Scargill wie eh und je, aber es hört ihm kein Parteitag mehr zu, sondern nur etwa 80 Getreue, zumeist ältere Männer. Der Großteil seiner Rede ist ein flammendes Plädoyer für Großbritanniens Rentner. „Mein Vater war 82, als er starb, und er hatte mehr Fähigkeiten als alle Computer, die je gebaut wurden! Denn er konnte mit menschlichem Mitgefühl denken.“

Neben Scargill sitzt Tony Benn, 71, jahrzehntelang führender Exponent des linken Labour-Flügels. Für ihn ist Labour tot und muß neu gegründet werden, von unten. „Alle die Errungenschaften der letzten hundert Jahre müssen neu erkämpft werden“, sagt er. Aber er sieht dabei nicht geschlagen aus. Seine Augen leuchten. „Wir stehen vor einer wundervollen Zeit!“ ruft er und grinst verschmitzt.

Benn spricht laut aus, was viele in Blackpool nur verschlüsselt sagen und einige fürchten: Blairs „New Labour“ ist Schaumschlägerei für die öffentliche Meinung und die Medien. Bis zur Wahl gilt „Einheit, Einheit, Einheit“. Ist die Partei endlich wieder an der Macht, kann die offene Debatte beginnen.

„Wir befinden uns in dieser besonders einengenden Phase, wo jeder, der die Wahrheit sagt, als Spalter angesehen wird“, sagt Clare Short, Mitglied des Schattenkabinetts, auf der alljährlichen Gala der linken Parteizeitung Tribune. Unausgesprochen in ihrer Analyse: Die Zeit der erzwungenen Einheit ist eben eine „Phase“, und die geht irgendwann vorbei. Peter Hain, Mitgründer der „Labour Reform Group“, wird deutlicher: „Wir Linken spielen ein langfristiges Spiel. Wir wollen dieses Spiel gewinnen.“

So kommt es, daß Peter Hain vor seinen eigenen Anhängern eine Ausweitung der innerparteilichen Demokratie fordert und zwei Tage später in der Parteitagsdebatte im Namen der Einheit die Führung gegen die rebellierenden Rentner unterstützt. So kommt es auch, daß viele derjenigen, die da klatschen und richtig abstimmen und jubeln, die ganze Parteitagsshow relativ abgeklärt sehen. Für Betty Batchelor, 78jährige Delegierte am Gehstock, Labour-Mitglied seit 1934 und Ex-Bürgermeisterin des südwestenglischen Tavistock, ist die gegenwärtige Zeit „die beste seit 1945“, als Labour haushoch die Wahlen gewann und den Wohlfahrtsstaat errichtete. Ihr geht es darum, den Elan jener Ära wiederzugewinnen, ob Blair es will oder nicht. Den Eindruck der Manipulation von oben weist sie zurück: „Ach was. Unsere Resolutionen schreiben wir selber.“

Kritik an Blair setzt woanders an. Die einzige schwarze Frau im britischen Parlament und jetzt mit erhöhter Stimmenzahl wieder in den Labour-Vorstand gewählte Diane Abbott beklagt, daß es schon lange nicht mehr sowenig Delegierte aus ethnischen Minderheiten gebe wie diesmal. Die gemäßigt linke Tribune-Gruppe verkauft T-Shirts mit der Aufschrift „Good Old Labour“. Und den größten Applaus nach Tony Blair erhält in Blackpool die Anführerin der rebellischen Rentner: Barbara Castle, 86 Jahre alt und mittlerweile geadelt, die als Ministerin in den 70er Jahren das staatliche Rentenwesen aufbaute und heute nicht einsieht, wieso Labour die Kürzungen der Thatcher-Ära nicht rückgängig machen will.

Die schmächtige Frau mit leuchtend orange gefärbten Haaren braucht sich bloß irgendwo hinzusetzen, und schon drängeln sich die Kameras und jubeln die Anwesenden, auch wenn eigentlich gerade Labours Nummer zwei, Schattenfinanzminister Gordon Brown, eine Rede hält. Wenn Barbara Castle die Parteiführung wegen ihrer Rentenpolitik zurechtweist wie eine pensionierte Lehrerin, klatscht sogar Tony Blair. „Es ist natürlich schwierig für die Mitglieder der ziemlich zerbrechlichen Politikmaschine hinter den Kulissen, das alles zu verstehen“, sagt Barbara Castle über die Rentenstatistik, und der Parteitag tobt. Hier ist endlich jemand selbstbewußt genug, die alten Selbstverständlichkeiten hochzuhalten: Ein umfassendes soziales Netz ist bezahlbar, offene Debatte ist gut, man kann nicht alle schwierigen Entscheidungen auf die Zeit nach der Wahl verschieben. Und die alte Dame sagt sogar: „Wenn ich noch einmal etwas über Werte höre, schreie ich.“

Aber auch Barbara Castle verliert letztendlich in der geheimen Abstimmung über den von ihr unterstützten Rentenantrag. Und nachdem sie das Rednerpult wieder verlassen hat, schlachtet die Führung ihren Beitrag als Beweis für den Pluralismus in der Partei aus. Tony Blair und sein Team haben etwas gelernt: Sie müssen nicht immer die Linken vergrätzen. Je mehr rote Fahnen sie aushängen, desto mehr Einheit stiften sie. Denn im Grunde hat der Machtkampf, der Richtungsstreit nach dem Wahlsieg, längst begonnen. Und gewinnen wird die Seite mit der besten Taktik nach innen und den besten Manieren nach außen.

Wenn der Sieg kommt, hat „New Labour“ ihre Mission erfüllt. Was kommt danach? Tony Banks, Linksrhetoriker und Chefsatiriker der Partei, hat eine Idee: „Labour – das klingt irgendwie anstrengend. Nennen wir uns doch einfach ,The New Party‘! Wir sind neu, wir sind nett, wir tun niemandem weh!“ Schön wär's. Als ein Delegierter im Foyer besonders schnell eine Stucksäule umkurven will und statt dessen mit ihr zusammenstößt, fällt ihm ein rotes Schild mit der Aufschrift „New Labour, neue Hoffnung“ auf den Kopf.