Grün im Breitwandformat

Wohnen und arbeiten auf dem Land: Zum Beispiel im Haus des Architekten Georg Ritschl in Hoppegarten. Teil III der Serie „Wie gewohnt?“
■ Von H. W. Hoffmann

Endlich Sonntag. Bloß raus! Mit Auto, Frau und Kindern ab aufs Land. Enge, Hektik, Alltag bleiben an der Stadtgrenze zurück. Dahinter Weite, Ruhe, Grün, Leben, natürlich und frei. Kann es so nicht immer sein?

Es kann, finanziell kein Problem. Bausparkassen rechnen vor: Sozialmiete und Fehlbelegungsabgabe sind längst so hoch wie die Raten für ein Eigenheim. Der Speckgürtel ist voller Sonderangebote. Jährlich werden mehr als 15.000 neue Wohneinheiten bezugsfertig und buhlen um die Stadtflüchtlinge. Allein 1995 verlor Berlin 22.400 Steuerzahler, junge Familien vor allem. Tendenz steigend. „Die Berliner werden knapp“, titelte unlängst der Tagesspiegel. Vom Stadtrand ins Umland ist es nur ein kleiner Schritt.

Angesichts der Realisierungsziffern von „Stadtvillen“, „Residenzen“ und „Parkwohnungen“ ist der Traum vom Leben auf dem Land schnell zu Ende: Vor dem Fenster zeigt sich statt Natur nur ein Dünnsiedlungsgebiet. Der Horizont ist verbaut. Damit er nicht noch enger wird, klagen Nachbarn durch alle Instanzen gegen jeden Neubau. Das Land ist mindestens so eng wie die Stadt. Außer Gartenarbeit hat es wenig zu bieten. Für Kita, Kino, Konsum muß man sich auf den Weg machen. Die Arbeit ist ohnehin nicht mit umgezogen. Der Mensch wird zum Pendler. Jeden Tag. Landschaft erlebt er allenfalls durch die Windschutzscheibe.

Daß es auch anders geht, beweist die Wohnanlage von Georg Ritschl. Enttäuscht von den Querelen um sein erstes großes Projekt, dem Intercity-Hotel am Bahnhof Zoo, beschloß der junge, ehrgeizige Architekt vor vier Jahren, Büro und Wohnung in Moabit aufzugeben und 200 Meter jenseits der östlichen Stadtgrenze in Birkenstein neu anzufangen. Neben vier Doppelhaushälften mit ökologischem Entwurfsschwerpunkt errichtete er auch für sich eine Villa zum Arbeiten und Wohnen.

Schon die Nähe des Orts zur Galopprennbahn Hoppegarten sprach den Pferdeliebhaber an. Der Bauplatz „Am Fließ 35“ grenzte an eine ihrer Trainingsbahnen. Zugleich lag das Grundstück an der wildverwachsenen Aue des Zockergrabens. Die umliegenden Gebäude sind planlos ins Gelände gestreut. Sie ignorieren diese Reize: Nicht einmal Balkone oder Terrassen sind zum Flußtal orientiert. Georg Ritschl dagegen sieht in seinem schmalen, tiefen Grundstück eine „Brücke in die Landschaft“. Den Erdaushub, der beim Bau anfiel, verteilte er so auf seinem Terrain, daß es sich gegen seine Nachbarn heraushebt. Damit sind die Grenzen ohne Zäune klar. Flußseits bedeutet nur eine Linie aus Kieselsteinen dem Spaziergänger, wo der Privatbesitz beginnt. Es bleibt ein Eindruck jovialer Offenheit. In sanftem Bogen fließen Straße und Flußtal ineinander. Die Distanz scheint aufgehoben.

Mit diesem Ziel verteilte Ritschl auch die Gebäude neben seinem eigenen Wohnhaus. Quer zu Straße und Fluß plazierte er eine Reihe von vier Doppelhaushälften. Unverhofft taucht diese Ordnung aus dem Siedlungsbrei auf und gibt ihm eine Richtung, macht den Landschaftsraum überhaupt erst erfahrbar. Im Rücken der Häuser saugt die Zufahrt Besucher in die Tiefe des Grundstücks. Ihre Front säumt ein pergolenartiger Sonnenschutz. Der Weg endet vor Georg Ritschls Haus an einer flachen Bruchsteinmauer.

Die Spannung steigt. So verschlossen sich die Mauer gibt, so deutlich macht ein weit hervorragender, horizontal beplankter Holzkörper, daß das eigentliche Ziel dahinter liegt. Eine Glastür schneidet in die rustikale Wand. Der Architekt bittet herein. Doch so richtig „drinnen“ ist man nicht. Riesige Panoramafenster holen das Bild der Landschaft tief in die Privaträume. Grün im Breitwandformat. Durch geschickte Staffelung der drei Geschosse entstehen Terrassen, Böschungen und Balkone. Doch nicht nur auf diesen Bühnen, überall in den Schlafzellen im Obergeschoß und in der Wohnlandschaft im Erdgeschoß spielt die Flußaue die Hauptrolle.

Selbst „im Keller“ fließen Gebäude und Garten ineinander. Eine flache Rasenrampe schneidet in das Gelände, um das Untergeschoß auf ganzer Breite an die Landschaft anzubinden. Terrasse, Wasserbecken und Steingarten machen aus der Restfläche eine gleichberechtigte Nutzungsebene. Und sogar mehr als das. Der Keller ist der zentrale Ort des Hauses. Hier richtete Georg Ritschl sein Atelier ein.

Das Entree bildet eine filigran aufgehängte Treppe. Sie führt so schnurstracks vom Eingang nach unten, daß kein Besucher in die Verlegenheit kommt, sich in die Privaträume zu verirren. Unten erwartet ihn nicht einfach ein Büro, sondern eine Halle, die alle anderen Räume an Größe wie an gestalterischem Aufwand übertrifft. Von Oberlichtband bis Dach-Shed wird alles aufgeboten, um die Halle zu belichten.

Der Raum zwischen Bruchsteinmauer und Landschaft ist streifenartig gegliedert. Unmittelbar an der Mauer liegen dunkel die Archive des Architekten. Davor reihen sich der offene Counter seiner Sekretärin, der von transluzentem Glas abgeschirmte Konferenzbereich und die offene Küche. Hier wird gekocht und an einer schlichten Tafel gemeinsam mit Kindern und Mitarbeitern gegessen. Von hier oben sieht manches Problem schon ganz anders aus. Vier Stufen führen hinab in den eigentlichen Zeichensaal. Wer weniger mit dem Stift arbeitet als lauthals am Telefon organisiert, nimmt in einer der drei gläsernen Boxen Platz. Sie liegen unmittelbar an der Scheibe. Hier steht auch Georg Ritschls Schreibtisch.

Doch egal, von wo aus er gerade nach draußen sieht, sein Blick ist nie ein kontemplativer. Er saugt aus der Landschaft Inspiration. Sie begleitet den Architekten, egal, ob er gerade mehr arbeitet oder mehr wohnt. Wann auch immer ihm Ideen kommen, ist der Schreibtisch nur ein paar Treppenstufen entfernt. Die Nähe von Bett und Büro verwischt den Unterschied zwischen Alltag und Sonntag, sie verschmilzt das Leben zu einer Einheit.

Die Flucht aus der Stadt hat Georg Ritschl von der metropolitanen Architekturszene distanziert. Gegen die sogenannte Berlinische Architektur rennt er nicht mehr an. Seine Projekte spielen sich nun ausschließlich im suburbanen Kontext ab. Kollegen, Freunde und ehemalige Mitarbeiter kommen nur nach langem Vorlauf hier heraus. Dann aber haben sie Zeit, lassen sich gleichermaßen von der familiären und konzentrierten Atmosphäre des Hauses beeindrucken und vom Abendpanorama einen Glanz in ihre Augen zaubern. Das Land tut seine Wirkung.

Teil IV erscheint am 2. November: Wohnen in der Geschäftsstadt