Türkische Staatsanwälte verklagen Franz Kafka

■ In Istanbul steht ein Schauspieler vor Gericht, der im Prozeß gegen 100 türkische Intellektuelle aus Kafkas „Prozeß“ rezitiert hatte. Damit habe er die Richter beleidigt

Istanbul (taz) – In der Türkei sitzt jetzt Franz Kafka auf der Anklagebank. Eine dreijährige Gefängnisstrafe fordert die Staatsanwaltschaft Istanbul für den Theaterschauspieler Mahir Günsiray, der bei seiner Verteidigung in einem Prozeß über den „Mißbrauch der Meinungsfreiheit“ Passagen aus Kafkas Roman „Der Prozeß“ vorgelesen hatte. Die Verlesung des Textes des Prager deutsch-jüdischen Schriftstellers sei eine Beleidigung des Gerichts, befanden die Ankläger. Das Verfahren gegen ihn wurde am Donnerstag eröffnet und sogleich vertagt.

Der Prozeß gegen Günsiray und 98 weitere türkische Intellektuelle, unter ihnen der inzwischen verstorbene Schriftsteller Aziz Nesin, hatte bereits im März begonnen. Gemeinsam hatten sie das Buch „Freiheit dem Gedanken“ verlegt, um damit gegen die staatliche Gängelung der Meinungsfreiheit zu protestieren. In dem Werk wurden erstmals inkriminierte und verbotene Reden, Flugschriften und Aufsätze gesammelt herausgegeben, aufgrund derer die Autoren – unter ihnen der Soziologe Ismail Besikci und kurdische Abgeordnete – im Gefängnis sitzen.

Die Bestimmungen des türkischen Strafrechts sind eindeutig: Den Verlegern droht das gleiche Strafmaß wie den Autoren. Günsiray wollte mit den Kafka-Passagen die Absurdität des Prozesses vor Augen führen. Kafka – vorgetragen mit der starken Stimme des Theaterschauspielers – ist jedoch in der Türkei wohl nur wörtlich zitiert gefährlich. So erging gegen den ebenfalls angeklagten Autor dieser Zeilen, der bei seiner Verteidigung von „kafkaesker Umgebung“ sprach und den verstörten Richter fragte, ob dieser Kafkfa gelesen habe, keine Anzeige.

Als es vorgestern zur gesonderten Anklageerhebung gegen Günsiray kam, hatten bereits 45 weitere Menschen die berüchtigte Kafka-Passage unterschrieben. Auch sie müssen nun vor Gericht. Kritik hat in der Türkei den Reiz einer kollektiv begangenen Straftat.

Auf den Vorwurf, das Gericht beleidigt zu haben, reagierte Günsiray wiederum literarisch: Wenn die Richter sich angesprochen fühlten, dann müsse an seiner Kafka- Rezitation ja wohl was dran sein. Oder, mit Cervantes' Don Quijote gesprochen: „Wenn die Kleidung ihnen paßt, ist es ihre Kleidung.“ Ömer Erzeren