Zwischen Tugend und Terror

Braucht der Liberalismus philosophische Schützenhilfe? Das Kulturforum der Sozialdemokratie lud die Philosophen Michael Walzer und Seyla Benhabib ins Berliner Willy-Brandt-Haus  ■ Von Mariam Niroumand

In losen Formationen war ein vorwiegend jugendliches, zum Teil studentoides Publikum am Tag nach der Deutschen Einheit ins Berliner Willy-Brandt-Haus gezogen. Das Kulturforum der Sozialdemokratie, das sich – wie Wolfgang Thierse in seinem Eingangsreferat versicherte – nicht als Parteiinstitution versteht, hatte eingeladen zu einer Begegnung mit der Philosophie.

Nachdem bereits die britische „New Labour“ unter ihrem Vorsitzenden Tony Blair dieser Tage wieder vorsichtig erste Annäherungen an den amerikanischen Kommunitarismus hatte erkennen lassen, sollten nun auch in Berlin mit der Harvard-Professorin Seyla Benhabib und dem Philosophen Michael Walzer (Princeton) zwei Exponenten einer Debatte vorsprechen, die in Deutschland erst mit einer gewissen Zeitverschiebung eintraf:

Brauchen die westlichen Demokratien, braucht der Liberalismus (und braucht das 1989 verabschiedete neue Parteiprogramm der Sozialdemokratie) eine philosophische Schützenhilfe?

Während Ulrich Wickert, unser vielleicht aktivster Kommunitarist, sofort Zustimmung gefunkt hätte (aristotelische Tugenden gegen den Werteverfall mobilisieren), sieht Seyla Benhabib vor allem zwei gewichtige Einwände. In den Jahren nach 1989 habe sich unter westlichen Intellektuellen von François Lyotard bis Václav Havel der Verdacht breitgemacht, westliches philosophisches Denken tendiere zum Totalitarismus, und Tugend könne letztlich nur in Terror umschlagen.

Die andere, die amerikanisch- pragmatische Ablehnungsfront, käme mit weniger Pathos daher: „Demokratische Politik“, so zitiert sie ihren Kollegen Richard Rorty, „braucht vielleicht Idealisierungen, aber keine Begründungen.“ Benhabib will nun beides nicht gelten lassen, denn „in demokratischen Gesellschaften steht nicht nur die Ausübung politischer Herrschaft unter Rechtfertigungsdruck, sondern auch und insbesondere die Frage, warum gewissen Gruppen von Menschen gewisse Güter wie Reichtum und Macht, aber auch Talent und Glück zukommt; diese Frage muß immer wieder und ohne Rekurs auf transzendierende Gründe beantwortet werden.“

Hier merkte das Publikum natürlich gespannt auf: Eine philosophische Begründung der Lottozahlen hätten alle gern von dieser Veranstaltung mit nach Hause genommen, alle wären gern dabeigewesen, wie das letzte bißchen Resttragik, das sich unser Jahrhundert noch leistet, ausgerechnet im Willy-Brandt-Haus seine Aufhebung erfährt. Indes: Benhabibs Vortrag – der sich von diesen schwindelnden Höhen dann in die Niederungen der traurigen Tatsache begab, daß immer weniger Menschen bereit sind, im Verein Baseball zu spielen, weil nämlich die Frauen diese Vereine nicht mehr durch ihre ehrenamtliche Tätigkeit zusammenhalten könnten – mündete schließlich in die reichlich nebulöse Forderung nach einer „institutionellen Phantasie“. Mit deren Hilfe solle dem Problem begegnet werden, daß „Demokratie für einfache Gesellschaften zu komplex und für komplexe Gesellschaften zu einfach“ ist.

Michael Walzer – der sich, zur Freude der Versammlung, als amerikanischer Sozialdemokrat outete, und der außerdem, zu meinem Privatvergnügen, eine schlagende Ähnlichkeit mit Martin Scorsese aufweist – gibt unumwunden zu, daß der Liberalismus eine Gesellschaftsform mit eingebautem Selbstzerstörer ist: Weil sein einziges Versprechen an die Individuen die Verfahrensgerechtigkeit ist, weil er nur den Rahmen sichern will, in dem einzelne sich zusammenfinden und vor allem auch wieder trennen dürfen – deshalb läuft er in jeder Generation aufs neue wieder Gefahr, daß seine eigenen Traditionen untergraben werden.

„Ein Großteil der liberalen politischen Theorie von Locke bis Rawls“, so Walzer, „besteht in dem Versuch, die Lehre zu fixieren und zu stabilisieren, um der Endlosigkeit der liberalen Befreiung ein Ende zu setzen“, endlich die eigene Moral, Ethnizität oder Rechtsvorstellung zur allgemeinen zu machen. Mit der Sozialdemokratie habe der Liberalismus gemein, daß er alle paar Jahre wieder die kommunitaristische Kritik – es gibt zuwenig Gemeinschaft, zuwenig verbindende Werte, zuwenig Staatsphilosophie – herausfordere, und daß er diese Kritik und die von ihr initiierten Kurskorrekturen paradoxerweise zum Leben brauche.

Neben den Rednern stand schweigend Rainer Fettings Skulptur von Willy Brandt, die den Vorsitzenden nachdenklich, grüblerisch-grungy in den Raum schreitend zeigt. Zum Abend hin scheint an manchen Stellen das Gold auf, das unter der mondgesteinartigen Oberfläche versteckt ist. Während Michael Walzer redete, hatten sich an der hinteren Glasfront des nach allen Seiten transparenten Gebäudes etwa dreißig Berliner eingefunden, die nichts wollten, als Oskar Lafontaine anzustarren, der in der ersten Reihe saß und der die von Walzer aufgespielten Bälle noch nicht so recht zu parieren wußte.

Walzer nämlich spielte an drei sozialdemokratischen Lieblingsthemen die Karriere von Begriffen durch, mit denen auch das Grundsatzprogramm der SPD hantiert, aber eben ohne ihrer Veränderung so recht gewahr geworden zu sein.

Zum Beispiel Gleichheit: „Jedem“, so Walzer, „der sich mit der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts beschäftigt hat, sollte klar sein, daß politische Konflikte und Machtkämpfe immer zu Machtgefällen führen, daß unternehmerische Aktivitäten immer zu ökonomischen Ungleichheiten beitragen und daß alltägliche soziale Handlungen – Klatsch, Prahlerei, die Bewunderung anderer oder einfach das Urteilen über sie – immer zu Ungleichheiten in Status oder Ansehen führen. Nichts davon kann ohne tyrannische Eingriffe ins Alltagsleben verhindert werden. Es war das historische Verbrechen der alten Linken, genauer gesagt, der Stalinisten, es zu der Identifikation von Sozialismus mit ebendieser Tyrannei kommen zu lassen.“

Statt dessen käme es darauf an, zu verhindern, daß in den verschiedenen Sphären auch verschiedene Verteilungsstandards durchgesetzt werden, daß also nicht Geldbesitz zugleich auch politische Macht sichert usw.

Freiheit, die Walzer meint, ist auch nicht allein die des sich selbsterfindenden postmodernen Kulturhelden, sondern die einer allgemeinen gesellschaftlichen Mobilität – der sozialen, geographischen, politischen und ehelichen, die den einzelnen logischerweise nur möglich ist, wenn „es Leute gibt, die zurückbleiben, in den Gruppen verwurzelt sind und sie am Leben erhalten“.

With a little help from the state! Fügte Walzer verschmitzt hinzu, weil natürlich inzwischen gerade die anwesenden Amtsinhaber wissen wollten, was denn sein Staat überhaupt noch darf, wenn er schon auf Philosophie verzichten muß.

Von Minderheiten organisierte Selbsthilfe, zum Beispiel indische Radiosender oder katholische Sozialstationen, eben kooperative Gemeinwesen fördern – gebongt. Wenn aber zum Beispiel eine islamische Gemeinde, deren Partikularität und innere Solidarität die liberale Gesellschaft normalerweise wertschätzt, beschließt, ihre Mädchen nicht mehr zur Schule zu schicken? Dann, seufz, muß auch Michael Walzers Staat schweren Herzens eine Schulpflicht durchsetzen.

Ansonsten schien Walzer aber mit reichlich Vertrauen in die bereits existierenden Zusammenhänge gesegnet, was man von vielen seiner Nachredner nicht behaupten konnte. Denn auf den beiden Podien zu den Themen „Individualität und Solidarität“ und „Arbeit, Natur und Lebensform“ kam es in erster Linie zum Austausch der altvertrauten Vorhaltungen an die Wirklichkeit. Lange klang einem da noch Michael Walzers Bemerkung im Ohr, nicht überall müsse ständig gewählt werden: „Demokratie kostet zu viele Abende.“