Ohne Gefühlssenken

■ Hamburg Oper: Günter Krämer gelingt eine fein gearbeitete Uraufführung von Zemlinskys „Der König Kandaules“

In der großen Oper müssen die kleinen Inhalte auch groß ausgestellt werden – denkt man, und kann sich täuschen. Denn wider Erwarten kann ein Regisseur, von dem man es nicht als erstes erwartet hätte, ein subtiles Beziehungsgeflecht auch mit Opernsängern erarbeiten. Günter Krämer, der in seinen vielen Regiearbeiten für die Hamburg Oper seine Schwerkraft meist mehr mit opulenten Bildern fand, hat mit der Uraufführung von Alexander Zemlinskys Der König Kandaules das fein geschliffene Gefühlsprisma einer überschaubaren Gesellschaft erstellt.

Kommt es doch zur großen Geste, dann bleibt sie „verschleiert“ genug, um künstliche Erhabenheit zu vermeiden. Etwa bei der enormen Vergrößerung des Corpus delicti aller Verwirrungen, dem Schleier der Nyssia, der als riesiger Vorhang die Bühne im ersten Akt vom Publikum trennt. Krämer läßt die Szenen der Schamlosigkeit davor, die ehrenhaften und keuschen dahinter spielen, wie um doppelt zu demonstrieren, daß der gewaltsamen männlichen Enthüllung die weibliche Integrität gegenüber steht.

Kandaules, der aus eitlem Stolz seine Frau vor seinen männlichen Gästen entblößt, und der arme Fischer Gyges, der auf die spaßhafte Anschuldigung der Untreue eines Höflings hin seine Frau ersticht, werden als das männliche Prinzip der Äußerlichkeit zum Impulsgeber einer Tragik, die auf sie selbst zurückfällt. Denn nachdem sich die beiden Patriarchen im Rausch gefunden haben, steigert Kandaules' Selbstsucht sich in den Plan, Gyges möge – durch einen Ring unsichtbar – seine Frau betrachten, um ihm deren Wirkung auf andere Männer zu demonstrieren. Daß sich die beiden dann finden, Gyges auf Nyssias Geheiß den König ersticht, bedeutet für beide Verlust: Für Kandaules den des Lebens und für Gyges denseiner gerade erst gefundenen Spiegelpersönlichkeit.

Krämer entkommt aus dieser pathosgeladenen Atmosphäre mit genauer Beobachtung. Er macht seine drei Protagonisten nicht zu Marionetten am Spiel der blinden Leidenschaft, sondern zeigt die Nuancen der Rollen auf. Und seine Akteure können ihm dabei bis in die Nebenrollen folgen. Gyges' innere Zerissenheit zwischen einfacher Moralität und unbekannten Verlockungen kann Monte Pedersen – der den Abend auch sängerisch zu dem seinen macht – mit wenigen großartig ungeschlachten Gesten glaubhaft machen. Gelenksteif und hölzern wie nach hundert Jahren Knochenarbeit trampelt er, über die Bühne und packt den Betrachter mit voller Rührung, wenn er über den vermeintlichen Ehebruch verzweifelt, seine Ehre durch Mord wiederherstellen will. Nina Warren versieht die Häutung der demütigen Gattin zur selbstbewußten Weiblichkeit mit der angebrachten Rätselhaftigkeit, und James O'Neal kann die Senken unzeitgemäßer Gefühlswallungen sicher umschiffen. Die Musik vom Zemlinsky bietet hierzu allerdings auch das gebotene Feld, denn der Komponist, der die Oper nicht mehr selbst fertig instrumentiert hat, geizt mit wolkigen Arien und gefühligem Tamtam und schafft lieber Stimmungen zwischen melancholisch und verhalten leidenschaftlich, die der Erzählung von André Gide in unaufdringlicher Manier dienen. Zemlinsky, eher ein Konservativer in seiner Zeit, klingt für unsere heutigen Ohren distanziert sowohl zu Mahler und Debussy wie zu Schönberg und Berg, als ein Wohltöner, dem jede Demonstration zuwider ist.

Gerd Albrecht gelang so lange ein transparentes Dirigat, wie er sich zurückhalten konnte, sich an dem wenig überzeugend singenden O'Neal mit großer Lautstärke zu rächen. Till Briegleb