Der Jäger sucht nach verwundbaren Stellen

■ Fremdheit gibt es nur im historisch gewachsenen Plural: „Der fremde Blick“, eine Podiumsdiskussion mit „Le Monde diplomatique“ auf der Frankfurter Buchmesse

Wer ablehnt, was ihm fremd ist, dem ist alles Fremde gleich, weil es ihm gleich fremd ist. Es mit dem Fremden gut meinen, hebt von allein den gleichmachenden Zug nicht auf, der in der Rede vom Fremden steckt. Das kam sehr schön bei einer Podiumsdiskussion zum Vorschein, die der Süd-Nord- Treffpunkt der Frankfurter Buchmesse in Zusammenarbeit mit der deutschsprachigen Redaktion von Le Monde diplomatique am vergangenen Samstag unter dem Titel „Der fremde Blick“ veranstaltet hat. Die vier eingeladenen Autorinnen und Autoren – die Mexikanerin Carmen Boullosa, die Algerierin Leila Sebbar, der Guineer Tierno Monénembo und der Franzose Gilles Kepel – konnten nicht verleugnen, daß sie sich untereinander ebenso fremd sind, wie sie zusammen, Fremdes repräsentierend, dem Frankfurter Publikum erscheinen mochten. Zunächst einmal, meinte Leila Sebbar, die als frankophone und in Frankreich lebende Algerierin zweierlei Fremdheiten erfährt, könne man sich unter Fremden einfach nicht leiden.

Die gerade in Frankfurt mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnete Carmen Boullosa nahm das Thema „Der fremde Blick“ beim Wort und verfolgte es in die Geschichte zurück: Columbus zum Beispiel hat für sie auf dem neuentdeckten Kontinent gar nichts gesehen, weil er das, was er sah, nicht erwartet hatte; Cortés hingegen sah sehr genau hin, jedoch mit dem Blick des zum Töten entschlossenen Jägers, der nach verwundbaren Stellen sucht; dem Aztekenkönig Montezuma wiederum wurde zum Verhängnis, daß er die Welt der fremden Eroberer nicht sehen und nicht begreifen konnte.

Den fremden Blick gibt es nur im Plural, darin waren sich die Diskutanten bei aller sonstigen Uneinigkeit einig, und er hat eine Geschichte, die von der Geschichte europäischer Eroberung und Kolonialherrschaft nicht zu trennen ist. Für Leila Sebbar, die sich selbst ein „vollendetes Kolonialprodukt“ nannte, da sie als Algerierin unter der französischen Herrschaft in Algerien keine Möglichkeit gehabt hatte, in der Schule Arabisch zu lernen, ist die Geschichte des Kolonialismus noch lange nicht zu Ende.

Gilles Kepel, der auch im deutschen Sprachbereich bekanntgewordene Pariser Islamwissenschaftler, machte darauf aufmerksam, daß die Immigration in Europa den Blick der Wissenschaften auf das Fremde umgelenkt hat: Seit der Islam auch ein europäisches Faktum geworden ist, verstünden die Islamologen sich nicht mehr als Orientalisten, sondern als Analytiker der in ihren eigenen Gesellschaften entstehenden neuen kulturellen Mischungen. Die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem fallen nicht mehr mit Staatsgrenzen zusammen, so daß auch der unterscheidende Blick neue Anhaltspunkte suchen muß.

Während Kepel das französische Modell der kulturellen Integration im Zeichen des Laizismus verteidigte, zeigten sich die Diskussionsteilnehmer aus anderen Weltgegenden weniger allergisch gegen ein Nebeneinander verschiedener Traditionen. In Afrika, sagte der aus Guinea stammende Tierno Monénembo, gehöre der Bikulturalismus seit langem zur Normalität. Selbst in der Sprache eines Nomadenvolks aufgewachsen, das in seinem Land marginalisiert ist, trägt der heute im Exil in Paris lebende Schriftsteller die Grenzen, die er schreibend hat überwinden müssen, mit sich herum.

Einig waren sich die miteinander diskutierenden Schriftsteller darin, daß ihr Schreiben sich stets an Grenzen bewegt und aus ihnen schöpft: Grenzen zum anderen und Andersartigen, Grenzen zu anderen Sprachen, Grenzen zu anderen Gesellschaften. Mag Mexiko auch in der Freihandelszone Nafta mit den USA assoziiert sein, meinte Carmen Boullosa, die Grenze zwischen San Diego und Tijuana trenne nach wie vor Welten voneinander. Im Paradies ohne Grenzen gäbe es keinen Roman, sagte Leila Sebbar und bezeichnete das heutige Algerien als ein Land, in dem sie mangels sichtbarer Andersartigkeit nicht schreiben könne; gleichzeitig warnte sie vor der Illusion, alles Fremde als Inspirationsquelle zu verehren: Chinesisches oder Deutsches lasse sie als Schriftstellerin vollkommen kalt. Das Publikum nahm's gelassen zur Kenntnis.

Vom fremden Blick war die Debatte bald abgeschweift und zum Thema Fremdheit der Sprache gekommen. Tierno Monénembo erinnerte daran, daß der Kolonialismus auch die Sprachverhältnisse in seinem Herrschaftsbereich umgewälzt und ihnen seinen Stempel aufgedrückt hat; für ihn kann heute jedoch nicht auf dem Programm der weiteren Entkolonialisierung stehen, die einem afrikanischen Land aufgenötigte französische Sprache zu vertreiben, was etwa die algerischen Islamisten wollen; vielmehr gehe es darum, sie zum eigenen Gebrauch zu „zähmen“. Aus mexikanischer Sicht wiederum gibt es nach Auskunft Carmen Boullosas kein Problem mit dem Spanischen als Sprache der Eroberer und Kolonialherrscher, weil inzwischen auch die Befreiung auf spanisch stattgefunden hat: Die kolonialen Hinterlassenschaften hielten sich nicht in der Sprache, sondern in der Psyche vieler Mexikaner verborgen.

Während die mexikanische Autorin, die zur Zeit dank einem Stipendium in Deutschland lebt, jederzeit in ihr Land zurückkehren kann, ist für die beiden anderen Schriftsteller die Rückkehr ins Herkunftsland versperrt. Für Afrikaner ist das Exil ein Zwang, keine Wahl, sagte Tierno Monénembo, dessen erste Veröffentlichung in deutscher Übersetzung, der Roman „Zahltag in Abidjan“, in diesem Herbst herausgekommen ist. Am Ende dieser den Vorgaben des bemühten Moderators Johannes Wendt sich häufig entziehenden, fürs anwesende Publikum jedoch gerade in ihren Sprüngen lehrreichen Debatte, verwahrte er sich gegen eine Glorifizierung des Exils: Bessere Schriftsteller mache es wohl nicht. Lothar Baier