Bigos zu Pfennigpreisen

■ Polens Milchbars ziehen Yuppies und arme Rentner gleichermaßen an

„Laß uns in die ,Kakerlaken‘ gehen“, schlägt Piotr vor und leckt sich die Lippen. Seine neuen Freunde, Erstsemester, die nie zuvor in Warschau waren, verziehen die Gesichter: „Kakerlaken?“ Piotr verrät nur so viel: „Eine der letzten ,Visitenkarten‘ des Sozialismus.“ Skeptisch trotten die drei hinter Piotr her, bis plötzlich ein Schild verheißt: „Milchbar“.

Davon gab es vor der Wende Tausende in Polen. Man aß dort gut, billig und gesund. Allerdings war das Angebot auf Milch- und Mehlspeisen beschränkt. Der Staat subventionierte diese „Bars“, so daß sich auch der Ärmste für ein paar Zloty ein Glas heiße Milch, eine Graupensuppe oder einen Teller Piroggen, gefüllt mit süßem Käse oder frischen Pilzen leisten konnte. Die Privatisierung überlebten die wenigsten Milchbars. Die Stammgäste, meist Studenten und Rentner, waren nicht bereit, die neuen Preise für die ehemals so billigen Gerichte zu bezahlen.

Den Markt eroberten McDonald's, Kentucky Fried Chicken, Pizza Hut und Burger King. Die polnische Lebensmittel- und Fast- food-Kette „Spolem“ machte pleite. Dennoch haben einige Milchbars überlebt und erfreuen sich inzwischen wieder regen Zulaufs. Die Speisekarte wurde erweitert, das Mobiliar erneuert, das Alumiumbesteck ausgetauscht. Die wichtigste Änderung aber betrifft die Hygiene. Namen wie „Kakerlaken“ oder „Risiko“ stammen noch aus Zeiten, als der polnische Alltag nur mit sarkastischem Humor zu bewältigen war. Mitte der achtziger Jahre strich der Staat die Subventionen für die Milchbars zusammen. Die Qualität sank, und die Gäste konnten nicht sicher sein, ob der Schnellimbiß in der „Freude“, im „Frieden“ oder der „Zukunft“ sie nicht einen Tag später ins Krankenhaus bringen würde.

Heute kann sogar die „Schweizer Bar“ mit dem französischen Restaurant „Montmartre“ konkurrieren. Wenn die jungen Broker oder „businesmeni“ aus der Warschauer Börse stürzen, um schnell irgendwo den Lunch einzunehmen, wählen nicht wenige die „Bar“ mit dem Flair einer Bahnhofskantine aus den Fünfzigern. Das Ambiente ist „Milchbar“-spezifisch und muß auch so sein, da die „bar mleczny“ sonst von einem Bistro oder einer Snackbar nicht zu unterscheiden wäre.

Auf der Speisekarte steht das polnische Nationalgericht Bigos, eine Art Krautgulasch mit Pilzen und Pflaumen, das erst dann richtig gut schmeckt, wenn es siebenmal aufgekocht wurde. Sehr lecker! Und der Preis ist einfach umwerfend: 80 Pfennig sind auch für polnische Verhältnisse ausgesprochen günstig. Da kann man sich direkt noch eine Vorspeise gönnen, zum Beispiel eine Rote-Beeten-Suppe mit Öhrchen, einen „zurek“ aus gesäuertem Schrot oder – im Sommer – eine kalte Buttermilchsuppe mit Kräutern. Köstlich! Eine Nachspeise zum guten Schluß? Zu sozialistischen Zeiten hieß es da in Polen häufig „Nie ma“: „Gibt's nicht.“ Desserts galten als „bürgerlich“ und damit anrüchig. Heute gibt es ein Schälchen „Budyn“ oder Götterspeise für 30 Pfennig oder einen Teller Milchreis mit Zimt und Zucker (30 Pfennig).

Solche Preise ziehen neben den Studenten, Rentnern und Yuppies aus der Börse auch Clochards an. Das stört aber niemanden. Im Gegenteil. Steht er erst einmal mit vollem Tablett an der Kasse und beginnt zu erklären, daß er eigentlich kein Geld hat, ruft es schon aus der Schlange hinter ihm: „Das geht auf meine Rechnung!“ Gabriele Lesser, Warschau