■ Bei der Transplantationsmedizin fragt sich: Was wiegt mehr? Schutz der Sterbenden oder Rettung des Lebens?
: Grün-liberaler Fundamentalismus

Während im intellektuellen Umkreis der Grünen noch räsoniert wird, wieweit man den parteipolitisch verwaisten Platz des Liberalismus übernehmen kann, zeigt der Entwurf eines Transplantationsgesetzes exemplarisch, wie liberal-grüne Politik zukünftig aussehen könnte. Unter Verzicht auf die sonst Grünen-übliche Solidaritäts-Rhetorik, wird offen dem Egoismus der Gesunden Ausdruck verliehen. Erklärtes Ziel des Grünen-Gesetzentwurfes ist die einseitige Stärkung der Interessen jener, denen ihr Selbstbestimmungsrecht alles, Verantwortung und Verpflichtung gegenüber schwerstkranken Mitmenschen hingegen wenig bedeutet.

Worum geht es? Die Transplantation von Nieren, Herzen und Lebern bildet eine oftmals alternativlose Behandlungsmethode schwerkranker Patienten. Bislang ist eine Organentnahme bei Verstorbenen nur möglich, wenn der Betreffende zu Lebzeiten darin einwilligte oder die Angehörigen einer solchen Entnahme zustimmen. Die Grünen verlangen nun, daß nur mit vorheriger ausdrücklicher Zustimmung des Organspenders und nach Eintreten des Hirntodes Organe entnommen werden dürfen. Das zielt faktisch auf ein Transplantationsverhinderungsgesetz. Bei Realisierung des Grünen-Gesetzes würden Nachfrage und Angebot an Organspenden noch stärker als bislang auseinanderklaffen. Denn bislang werden nur etwa 5 Prozent der Organentnahmen aufgrund einer zu Lebzeiten dokumentierten Einwilligung durchgeführt.

Begründet wird die Grünen-Initiative insbesondere mit dem Hirntodkonzept, das der bisherigen Transplantationspraxis zugrundeliegt. Danach gilt der Ausfall der meßbaren Hirnfunktionen auch bei kurzzeitiger Fortsetzung der spontanen Herz- und Atmungsfunktionen bereits als Kriterium medizinischer Todesfeststellung. Diese zeitliche Differenz zwischen Sterben und Tod ist für die Transplantationsmedizin wichtig, weil sie auf „lebensfrische“ Organe angewiesen ist. Beim Hirntodkriterium geht es um keine essentiell neue Definition des Todes, sondern um eine an den Interessen der Transplantationsmedizin orientierte, funktionale Neubestimmung, die nun Rechtscharakter erlangen soll. Es ist legitim, auf die Differenz zwischen dem Hirntodkriterium und den lebensweltlichen Verständnissen vom Tod hinzuweisen. Fragwürdig aber ist die Annahme, die rechtliche Fixierung des Hirntodkriteriums würde automatisch unser Alltagsverständnis vom Sterben verändern. Wer so argumentiert, überschätzt die gesellschaftliche Wirkung politischer Entscheidungen.

Man mag über die in unserer Kultur betriebene Verdrängung des Todes die Nase rümpfen. Wer aber deshalb fordert, daß andere einen gelasseneren Umgang mit dem Sterben praktizieren sollen, handelt zynisch. Statt das Hirntodkriterium als pragmatisch-funktionale Definition des Medizinbetriebes auf diesen Bereich zu beschränken, stellen die Grünen wieder einmal dem reduktionistischen Menschenbild der Medizin ein „eigentliches“ gegenüber. Doch in einer pluralistischen Gesellschaft bestehen eine Vielzahl unterschiedlicher Umgehensweisen mit dem Tod. Das Anliegen, das eigentliche „Wesen“ des Todes gegen die Hirntoddefinition zu stellen, gleicht dem Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln.

Zweifellos kann die Argumentation der Grünen auch auf problematische Entwicklungen der Hochleistungsmedizin verweisen. Dazu zählen die Verwandlung der Hoffnung auf eine Organspende in ein Anspruchsdenken, die Bevorzugung der Organverpflanzung vor anderen Behandlungen oder die verbreitete Furcht vor dem Handel mit Organen. Nur: Diese Mißbrauchsmöglichkeiten rechtfertigen keineswegs, daß man die Transplantationsmedizin strangulieren muß. Dem kann man besser mit der öffentlichen Erörterung der Interessen von Spendern und Empfängern entgegenwirken.

Den problematischen Kern der Argumentation bildet indes nicht die Ablehnung des Hirntodkonzeptes, sondern die Verbindung dieser Ablehnung mit einem extremen, weil keine sozialen Grenzen mehr akzeptierenden Verständnis von Selbstbestimmung. Bezeichnend ist, daß der Grünen-Gesetzentwurf zwar einen Wust von problematischen Tendenzen der Transplantationsmedizin beschreibt, aber mit keinem Wort zur Organspende ermutigt. Die fehlende Bereitschaft, Organe zu spenden, resultiert wesentlich aus einer ausgeprägten Konsumentenmentalität gegenüber dem Medizinbetrieb, aus der Hoffnung auf ein Nehmen, ohne zu geben. Hinzu kommt die Aversion vor einer undurchschaubaren Apparatemedizin. Beide Tendenzen werden durch den Gesetzentwurf artikuliert und verstärkt. So reduziert sich die Forderung der Grünen nach Selbstbestimmung auf das Recht des Stärkeren. Wer nur die „Unveräußerlichkeit der Persönlichkeitsrechte der Spender“ (Monika Knoche, MdB Grüne) schützen will, untergräbt die Bereitschaft zur Organspende und stärkt die Entsolidarisierung.

Ein Junktim zwischen der Ablehnung des Hirntodkriteriums und der Transplantationsmedizin ist in ethischer Hinsicht jedoch keineswegs zwingend. Auch wenn man Hirntote als sterbende, und damit allen Schutzgarantien des Grundgesetzes unterliegende, Menschen begreift, wäre eine erweiterte Zustimmungslösung – nach dem auch bestimmte Angehörige die Bereitschaft des Hirntoten zur Organtransplantation übermitteln dürfen – ebenso möglich wie eine Erklärungspflicht über die Bereitschaft zur Organspende. Wenn das von den Grünen emphatisch eingeforderte Recht auf Selbstbestimmung gilt, warum soll dann eine Verpflichtung zur Entscheidung über eine Organspende ethisch verwerflich sein?

Doch eine solche Abwägung von ihrer Medizinkritik und den konkreten Lebenswünschen Kranker suchen die Grünen nicht. So frönen sie noch einmal fundamentalistischen Impulsen – diesmal im liberal-individualistischen Gewande. Eignet sich die Transplantationsmedizin dazu, weil es sich bei den Leidtragenden um eine wahlarithmetisch bedeutungslose Gruppe handelt? Oder verweisen die Argumentationsnöte der Grünen auch auf ein generelles Problem links-alternativer Medizin- und Technikkritik? Denn wer immer nur worst case-Annahmen als einzig wahrscheinliches Szenario unterstellt, gibt dem Prinzipiellen gegenüber dem Besonderen das Vorrecht und ist letztlich bereit, im Namen der Wahrung der Menschenwürde, konkrete Menschen zu opfern, vermeidbares Leid, ja, den Tod von Menschen in Kauf zu nehmen. Harry Kunz