Mohnblumen zwischen Massengräbern

Katholische Inszenierung oder strenge Konzeptkunst als Erinnerung an den Holocaust? Jean Hoeninnger hat im Staatlichen Museum in Majdanek ihre „Topography of Tyranny: Material Forms of Remembrance“ installiert  ■ Von Brigitte Werneburg

Auf den ersten Blick erscheint die Installation als zartes, flirrendes, dennoch raumgreifendes Muster. Im Raum schwebend, bannt sie die Besucher auf der Stelle. Die drei kleinen, dreieckigen, sehr flachen Erdfelder, die linker Hand am Boden an dieses Muster anschließen, bemerkt man einen vielleicht entscheidenden Augenblick später. Auf ihnen sind jeweils einige wenige Paar Schuhe zu sehen, insgesamt fünfzehn Paar, von Männern, Frauen und Kindern. Jean Hoeninnger, US-amerikanische Bildhauerin aus Los Angeles, hat sie für „Topography of Tyranny: Material Forms of Remembrance“, ihre Ausstellung in der Holzbaracke der Schusterwerkstätte, in Eisen gegossen.

Auf den zweiten Blick zerfällt das flirrende Muster in fünfundvierzig transparente Schwarzweißfotografien. Sie sind zwischen zwei Glasplatten eingelassen, die mit Blei eingefaßt und mit einem schmalen weißen Leinenband umsäumt wurden. Von B wie Baczków bis Z wie Zbylitowska Góra reihen sich in diesen Fotografien die Orte der Massenexekutionen aneinander, die von den deutschen Einsatzgruppen und Polizeibataillonen im Generalgouvernement, also dem von den Deutschen besetzten Teil Polens, durchgeführt wurden. Unter den Fotografien ist das jeweilige Datum der Mordaktion und die Zahl der Exekutierten vermerkt, während ein roter Punkt in einem Umrißplan von Polen zeigt, wo der jeweilige Ort zu finden ist.

150 solcher Orte hat Jean Hoeninnger in den letzten zwei Jahren aufgesucht und sie in ihrem derzeitigen Zustand fotografiert. Dabei wurde die Künstlerin von alten Leuten aus der Gegend begleitet, die sich an die mörderischen Ereignisse noch erinnern konnten und deren Berichte Hoeninnger auf Tonband aufnahm. Zuvor hatte sie in langer Archivarbeit rund 400 Exekutionsstellen, seien sie im Wald gelegen, auf Friedhöfen oder auf Bauernhöfen, ausfindig gemacht. Denn der deutsche Vernichtungsfeldzug gegen die europäischen Juden hat im Osten überall stattgefunden. Also auch Jean Hoeninnger stieß in ihrer künstlerischen Spurensicherung – unabhängig von Daniel Jonah Goldhagens Thesen – auf diesen immer wieder vernachlässigten Aspekt des Holocausts.

Tritt man in die Ordnung der hängenden Bildertafeln hinein und an die einzelnen Fotografien heran, sieht man die Exekutionsorte in ihrem jetzigen Zustand. Manche Stelle ist eine Idylle. Ein schön gewachsener Waldsaum begrenzt das sommerlich reife Kornfeld, etwa bei Wereszcyn oder Bialochowo, wo die Schutzpolizei und Einsatztruppen der SS im September 1939 zwischen 135 und 200 polnische Einwohner zu Tode prügelten. In Wereszcyn wurden am 26. Mai 1942 zunächst 14 polnische und 94 jüdische Einwohner des Dorfes erschossen, das anschließend mit Brandbomben dem Erdboden gleichgemacht wurde. An anderen Plätzen wie etwa Debica, wo ein Polizeibataillon bei der Räumung des Ghettos mehr als 500 jüdische Einwohner erschoß, ist die Idylle dank eines Gedenksteins gebrochen.

Die Bilder lassen ohne weiteres erkennen, warum der Kunst die historische Recherche vorausgehen muß: Das Leben und die Natur haben die Schinderhütten und Schlachtplätze überformt, der Boden wurde beackert, es wurde gesät und geerntet, es wurde gebaut, und auf den Friedhöfen wurden die in glücklicheren Zeiten Gestorbenen zu Grabe getragen. Es ist eine schöne Landschaft, die die Fotografien zeigen, mit Feldern voller Mohnblumen, unheimlich wird sie erst durch das Wissen oder die Ahnung davon, was es heißt, daß „Erntefest“ hier einmal nichts anderes bedeutete als die Exekution und Ermordung von über 42.000 Menschen, von allein 16.500 Juden am 3. November 1943 im Lager Majdanek.

Ein halbes Jahr später, am 23. Juli 1944, wurde das Lager durch die sowjetische Armee befreit, die sofort Untersuchungen über die deutschen Verbrechen in Gang setzte. Majdanek wurde dann zu einer Zeit, in der die anderen Lager des NS- Regimes noch in Betrieb waren und der Holocaust mit der Deportation der ungarischen Juden nach Auschwitz in seine letzte Phase trat, zur Gedenkstätte erklärt, am 10. Oktober als „Staatliches Museum in Majdanek“. Im November fand die erste Ausstellung mit Dokumentarfotografien von Majdanek, die russische Kriegsberichterstatter aufgenommen hatten, auf dem Lagergelände statt. Bis Ende 1944 hatten bereits 500.000 Menschen, davon 200.000 aus dem Ausland, Majdanek besucht.

Heute hat sich die Besucherzahl bei rund 90.000 Menschen im Jahr eingependelt. Das Lager liegt inzwischen direkt am Rand der Stadt. Die Nazis hatten es nur fünf Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, auf einem gut einsehbaren Hügelgelände, errichtet. Selbst heute, nachdem das Lagergebiet nach dem Krieg um zwei Drittel der Fläche reduziert und die meisten Baracken und der SS-Bereich abgetragen wurden, erscheint das Gelände riesig. Auf einer Fläche von 90 Hektar sind alle sieben Gaskammern erhalten geblieben, das Krematorium, eine Reihe von Wirtschaftsbaracken, ein vollständiges, mit Holzbaracken bebautes Häftlingsfeld, die hölzernen Wachtürme und die Stacheldrahtumzäunung.

Im herbstlichen Nieselregen kann man noch unschwer erkennen, in welche Schlammwüste sich das Lager während der drei Jahre seines Bestehens nach jedem Sommer verwandelte. Und man erkennt auch, welche Folgen allein dies schon für die Häftlinge gehabt haben muß, wirkt die Anlage doch ausgesprochen dürftig, provisorisch und hinfällig, obwohl sie jetzt gehegt und gepflegt wird.

In dieser bedrückenden Armseligkeit des Umfelds der Ausstellung hält „Topography of Tyranny“ der Niedertracht stand, deren Ausdruck das notdürftige Provisorium ist. Die karge Lageranlage, die einer morbiden Monumentalität und Wucht keineswegs entbehrt, macht die Installation nicht klein. Im Gegensatz zu Christian Boltanskis Spurensicherung, deren Vorbild sich die Arbeit sicher auch verdankt, ist Hoeninngers flirrendes Fotofeld maßlos nüchtern. Weil aber das Webmuster der Bilder seinen Denkmalcharakter im allmählichen Fortschreiten von Bild zu Bild, von Exekutionsort zu Exekutionsort enthüllt, gewinnt es seine eigene Wucht und sachliche Leidenschaftlichkeit. Die getrockneten Gräser und Blüten vom fotografierten Ort, die, in ein kleines Stück Leinen gewickelt, am unteren Rahmen liegen, und die wenigen Paar Eisenschuhe auf der flachen Erde öffnen dann den Türspalt in den Raum des Sentiments. Dieser Seitenblick ist gut, denn interessanterweise bestärkt er den Ausdruck der Installation, daß hier Kunst nicht auf Gefühl, sondern Kunst auf Historiographie verweist. Auf die historische Recherche, die allerdings ohne Gefühl nicht auskommen wird. Und nicht ohne Bilder, seien sie sprachlicher oder materieller Art.

In der ersten Dauerausstellung in Majdanek, die im Januar 1945 eröffnet wurde, waren Wachsfiguren ausgemergelter Häftlinge eines der wesentlichsten Ausstellungsobjekte, schreibt Tomasz Kranz, der Leiter der Forschungsstelle, in einem Überblick über die Geschichte der Gedenkstätte. Das erscheint befremdlich, im nachhinein befremdlich tautologisch, denn das Bild der realen Häftlinge und ihrer Leichen war den Menschen ja nur zu gut bekannt.

Doch nicht jede Überführung historischer Forschung in ihre Darstellung kann Konzeptkunst sein. Auch wenn man sich des Eindrucks nicht erwehren mag, das genau sei das Ziel der aktuellen Geschichtswissenschaft. So läßt sich in einer ebenso bemerkenswert unfairen Lektüre wie bemerkenswert eindimensionalen Einstellung gegenüber Bildern und Fotografien – „Bilder töten (sic) das Gedächtnis“ – eine „Ästhetik des Grauenhaften“ von „Spielberg bis Goldhagen“ konstruieren, wie es Ulrich Raulff in der FAZ am 16. 8. vorgeführt hat. Läse man immer so am tatsächlichen Argument vorbei, dann wäre „der Schritt ins Schauergeschäft“, den Ulrich Raulff Daniel Jonah Goldhagen zuschreibt, auch Michel Foucault vorzuwerfen, wenn er in „Überwachen und Strafen“ auf nicht weniger als vier Druckseiten die Vierteilung des Robert-François Damiens in all ihren Details wiedergibt.

Die Wachsfiguren in Majdanek jedenfalls weisen auf eine andere Tradition hin: auf die der Märtyrerdarstellungen des Katholizismus. Die Ästhetik der identifikatorischen Darstellung des Leidens ist so durch und durch katholisch wie die Ästhetik der gefühlsgeladenen Darstellung des triumphierenden Hasses der Peiniger.

Diesem inzwischen weithin säkularisierten Erbe entkommt keine Form der materiellen, inszenierten Erinnerung. Wahrscheinlich sollte man vor der großen Polemik erst einmal die Verwerfungen wahrnehmen: das Bilderverbot, das sich die deutschen Historiker auferlegt haben und das ambivalente Gefühle hervorruft, auf der einen Seite. Und auf der anderen das sicher ungewollte, aber zwangsläufige Katholischwerden des Holocausts, vor allem in der Didaktik seiner amerikanischen Museen mit ihrer postumen Opferidentifikation (etwa im Los Angeles Holocaust Museum), das ebenfalls ambivalente Gefühle hinterläßt.

Doch auch die konzeptuelle, nüchterne Annäherung an die Shoa funktioniert nur auf der Folie ihres Gegenentwurfs. Den Verweis darauf hat Jean Hoeninnger mit Hilfe ihrer Schuhskulpturen in ihre Arbeit integriert.

Jean Hoenninger: „Topography of Tyranny: Material Forms of Remembrance“, bis 15. Oktober, Staatliches Museum in Majdanek, Lublin