Die Rache der Billigtouristen

Europäischer Gerichtshof zwingt erstmals Bundesregierung zu Schadenersatz – Glück für die Konkursopfer eines Reiseveranstalters  ■ Aus Freiburg Christian Rath

Müde Gesichter in Airport-Wartehallen, seit Tagen auf den Rückflug nach Hause wartend, kaum noch Geld im Portemonnaie, um sich zu ernähren oder mit dem deutschen Konsulat zu verhandeln. Das waren die Fernsehbilder nach dem Konkurs des Frankfurter Reiseveranstalters MP Travel Line im Sommer vor drei Jahren. Gestern entschied nun der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, daß die gestrandeten UrlauberInnen entschädigt werden — allerdings nicht aus der allzu dürftigen Konkursmasse der MP Travel, sondern von der Bundesrepublik Deutschland. Der Grund: Deutschland hatte eine EU-Richtlinie zum Schutz von Pauschalreisenden nicht rechtzeitig umgesetzt.

Für Wirbel hatte die MP Travel Line schon vor ihrem aufsehenerregenden Konkurs gesorgt. Der in Portugal lebende Selfmade-Unternehmer Wolfgang Napirei hatte mit einem neuen Vertriebskonzept die Reisebranche von unten aufgerollt. In dem als beratungsintensiv geltenden Gewerbe verkaufte Napirei ausschließlich per Telefon und sparte sich die Provisionen für Reisebüros. Angelockt wurden die KundInnen durch sensationelle Billigangebote: 400 oder 600 Mark für eine Woche Türkei oder Portugal mit Flug und Hotel, das war konkurrenzlos günstig.

Im Jahr 1992 wickelte das erst zwei Jahre zuvor gegründete Unternehmen schon 135.000 Pauschalreisen ab. 1993 sollte die Firma unvermindert weiterwachsen, erstmals fanden sich auch US- Ziele in Florida im Programm. Doch damit hatte Napirei sich übernommen. Als die Reklamationen über schlechte Reiseabwicklung zunahmen und sich kritische Medienberichte häuften, rollte eine Storno-Welle über MP Travel Line hinweg und brachte Napirei die Pleite.

Mußten sich zuerst die BilligtouristInnen Hohn und Spott der deutschen Medien gefallen lassen („Die Schnäppchengier hat sie blind und taub gemacht“), fanden diese in der damaligen Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) bald eine neue Buhfrau. Die Ministerin hatte nämlich zu verantworten, daß eine EU-Richtlinie zum Schutz von Pauschalreisenden nicht fristgemäß umgesetzt worden war.

Bis Silvester 1992 hatte der Bundestag Zeit gehabt, das EU-Recht im Bürgerlichen Gesetzbuch zu verankern – damit Reisende, deren Urlaub wegen Konkurses des Veranstalters ins Wasser fällt, ihr Geld wiedersehen oder ohne Zusatzkosten nach Hause kommen, wenn sie von der Pleite in fernen Ländern überrascht werden. Nach langen Auseinandersetzungen mit und innerhalb der Reisebranche (taz vom 20. 8. 1993) trat das Sicherungssystem erst im November 1994 in Kraft — dazwischen lag der Konkurs der MP Travel Line.

Europarechtlich beschlagene AnwältInnen erinnerten sich sofort an ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) aus dem Jahr 1991. Die Luxemburger Richter hatten damals erklärt, daß im Falle der verspäteten Umsetzung von EU-Richtlinien geschädigte BürgerInnen ihren Heimatstaat auf Schadenersatz verklagen können. Beim Landgericht Bonn sind derzeit rund 80 Verfahren von MP- Opfern anhängig. Die Zahl der Berechtigten beträgt aber nach Angaben der „Interessengemeinschaft der MP-Geschädigten“ insgesamt rund 6.000 Personen mit Ansprüchen in Höhe von sechs bis zwölf Millionen Mark.

Vor dem Bonner Landgericht zeigte sich die Bundesregierung jedoch uneinsichtig. Zum einen sei der Schutz deutscher TouristInnen durch Gerichtsurteile schon recht gut gewesen, so der Regierungsanwalt Dieter Sellner. Außerdem sei die Umsetzungsfrist von zwei Jahren für eine so komplizierte Materie zu kurz gewesen. Um diese Fragen zu klären, legte das Bonner Gericht den Fall in Luxemburg vor.

Dort fanden die deutschen Einwände gestern keinerlei Gehör: Richtlinien müssen per Gesetz umgesetzt werden, Gerichtsurteile reichen nicht aus, und wenn ein Staat für die Umsetzung länger braucht, muß er sich die Verzögerung von der EU-Kommission genehmigen lassen, was Deutschland nicht getan hatte. Nach diesem Urteil wird dem Bonner Landgericht kaum etwas anderes übrigbleiben als den Klagen der MP-Geschädigten stattzugeben.

Um Gerichtskosten zu sparen, hat das Justizministerium gestern sofort an die MP-Touristen appelliert, nun nicht massenweise Klagen einzureichen, sondern sich direkt an das Ministerium zu wenden. Großzügig erklärte das Haus Schmidt-Jortzig bereits, daß man bis Ende 1998 nicht auf die eigentlich nach drei Jahren fällige Verjährung pochen werde.

Erfreut sind über das Urteil nicht zuletzt die EU- Institutionen. Selten kann sich Europa so bürgernah präsentieren und gleichzeitig die bockigen Mitgliedsstaaten maßregeln (siehe auch nebenstehenden Kasten).

Kommentar Seite 10