Zu Hause nicht ausgehalten

Die Projekte „Betreutes Einzelwohnen“ und „Wohnprojekt für junge Volljährige“ bieten Jugendlichen die Möglichkeit, auf eigenen Füßen zu stehen  ■ Von Ute Sander

Rico ist schwul. Jahrelang hatte er Ärger mit seinem Stiefvater, kam nicht mit ihm zurecht. „Irgendwann habe ich's zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten.“ Mit 16 Jahren ist er nach Berlin abgehauen, wo er sein Coming-out hatte. Ging Anschaffen, hatte keinerlei Zukunftsperspektiven. Bis er von einer Streetworkerin von dem Projekt „Betreutes Einzelwohnen“ hörte. Sein Antrag wurde angenommen, und Rico lebte zwei Jahre lang zusammen mit zwei weiteren Jugendlichen in einer betreuten Wohnung. Vor einem Jahr ist er dort ausgezogen, doch der Kontakt zu seinem ehemaligen Betreuer ist weiterhin sehr eng. „Hier bekommt man die Unterstützung, die man sich von einer Familie immer gewünscht hat“, erklärt Rico.

Rico ist kein Einzelfall: „Fünfzig Prozent der Jugendlichen, die aus Elternhäusern kommen, hatten Streß mit den Stiefeltern“, sagt Peter Urban, Geschäftsführer von „Casablanca“, einer gemeinnützigen Gesellschaft für Jugendhilfe und soziale Dienste. Ihr Projekt „Betreutes Einzelwohnen“ (BEW) feierte gestern fünfjähriges Bestehen, seit fünfzehn Monaten existiert zudem das „Wohnprojekt für Junge Volljährige“ (JuVo). Derzeit werden von den 11 MitarbeiterInnen 46 junge Menschen betreut, die Zahl der BewerberInnen ist allerdings viermal so hoch.

Nancy hatte langjährige Heimerfahrung, bevor sie zum Projekt kam. „Ich wurde aus einem Spezialheim in Thüringen zu meiner Mutter zurückgeschickt, die mich nicht wollte“, erklärt sie. Um nicht erneut in ein Heim zu kommen, hat sie sich für das Casablanca-Projekt beworben. Heute ist sie 17 Jahre alt, lebt in einer betreuten Einzelwohnung und macht eine Ausbildung als Bürokauffrau.

Durchschnittlich dreimal pro Woche treffen sich die jungen Menschen aus den Wohnprojekten mit ihrem Berater. „Das ist aber nicht irgend so ein Zwangstreffen“, erklärt Rico, „sondern schlichtweg ganz intensive Betreuung.“ Zusätzlich organisiert „Casablanca“ Gruppenfahrten und gemeinsame Abende. „Gerade zu den kritischen Tagen wie Weihnachten ist so ein Angebot wichtig“, sagt Gabriele Busmann, Koordinatorin von „Casablanca“.

Die Projekte stellen Jugendlichen und jungen Erwachsenen Ein- bis Dreizimmerwohnungen zur Verfügung. Um alles andere müssen sich die Jugendlichen selbst kümmern, „um die Bezahlung der Stromrechnung ebenso wie um die täglichen Einkäufe“, sagt Gabriele Busmann. 478 Mark bekommen sie im Monat als „Hilfe zum Lebensunterhalt“; Jugendliche, die sich in der Schulausbildung oder Lehre befinden, 50 Prozent mehr. Hinzu kommt eine Kleiderpauschale von 102 Mark und das mietfreie Wohnen. Getragen werden die Kosten von den Jugendämtern. „Heime stellen doch eine irreale Lebenswelt dar“, sagt Peter Urban. „Bei uns bekommen sie higegen echte Hilfe zur Selbständigkeit.“

„Casablanca“ gehört einem Verbund von Projekten an, dazu zählen beispielsweise auch ein Jugendausbildungsprojekt und die Initiative „Zukunft & Wohnen“, bei dem Jugendliche sanierungsbedürftige Wohnungen renovieren. „Der Aufbau war nur in diesem Verbund möglich“, erklärt Peter Urban. Für die Projekte BEW und JuVo wurden pro Wohnung nur 6.000 Mark zur Verfügung gestellt. „Dazu muß man wissen, daß die Wohnungen, die wir übernehmen konnten, in einem sehr schlechten Zustand waren“, sagt Frank Büttner von „Casablanca“. „Die Fenster ließen sich nicht mehr schließen, und die gesamten Sanitäreinrichtungen waren vollkommen heruntergekommen.“

Die Finanzierung von solchen Projekten wird angesichts der Finanzmittelknappheit immer schwieriger. „Es ist ein Glücksfall, daß wir den heutigen Stand überhaupt erreicht haben“, erklärt Peter Urban. „Unsere Bestrebungen liegen auch nicht darin, immer weiter zu expandieren, da die Kleinteiligkeit nicht verlorengehen soll.“ Doch es bestünde durchaus Handlungsbedarf für Jugendliche unter 15 Jahren: „Wenn die Jugendlichen heutzutage rausfallen, dann findet das zunehmend schon im Kindesalter statt.“ Die erste kritische Phase liege heute bereits bei dem Wechsel von der Grundschule auf eine weiterführende Schule.

Zur Genehmigung jedes weiteren Projekts wäre jedoch laut Urban seit diesem Jahr ein Senatsbeschluß notwendig. „Wir haben bis zum letzten Jahr noch auf ABM- Basis gearbeitet“, erklärt Gabriele Busemann, „unser Fortbestand war deshalb nicht geklärt“. Erst seit dem letzten Jahr sind die MitarbeiterInnen fest angestellt. „Das hat gerade noch geklappt“, seufzt Peter Urban.