„Eigentlich müßte er täglich danke sagen“

Seit acht Jahren pflegt Erna Richter rund um die Uhr und unter Aufgabe ihres eigenen Lebens ihren 86jährigen Vater und lebt bei ihm. „Ich habe keine Aggressionen. Ich bin immer artig und lieb gewesen.“  ■ Von Tim Köhler

„Ein Mann macht den Vati nicht sauber, wenn er sich vollgeschissen hat“, sagt Erna Richter. Sie tut es. Seit acht Jahren pflegt die 60jährige Frau ihren mittlerweile 86jährigen Vater. Und sie lebt mit ihm in seiner Wohnung, obwohl sie ihre eigene hat. Aber sie muß auch nachts für ihn da sein. Die Tür zu seinem Zimmer bleibt immer offen. Es lohnt sich nicht für sie, von Kreuzberg jeden Tag nach Reinickendorf in ihre Wohnung zu fahren. Also lebt sie mit ihrem Vater zusammen in der kleinen Zweizimmerwohnung und pflegt ihn rund um die Uhr. „Abends um sieben, nachdem ich ihn ins Bett gelegt habe, mache ich nur noch Hausarbeit oder gucke Fernsehen. Was soll ich machen?“ Tagsüber geht sie einkaufen und dreht höchstens mal eine Runde um das Hochhaus, in dem sie wohnen. „Ich lese viel, wegen der Langeweile.“

Vor zwanzig Jahren hatte ihr Vater seine erste Prostata-Operation. Seitdem kann er seinen Urin nicht mehr halten. Deshalb muß sie ihn auch tagsüber windeln. Und wenn er pinkeln muß, hilft sie ihm beim Aufstehen. Sie zieht ihm die Hose herunter, hält ihn dabei fest, setzt ihn dann wieder herunter. Das mehrmals am Tag, damit er nicht in die Windel pinkeln muß. Diese Prozedur ist das Schwerste für die kleine und schlanke Frau.

Vor drei Jahren operierten sie dem alten Mann das rechte Bein weg, wegen seiner Zuckerkrankheit. Er kann nicht laufen. Außerdem hat er eine Nieren- und Herzschwäche. Den ganzen Tag über sitzt er vornübergebeugt in seinem Rollstuhl am Tisch. Aber immer noch ist seine mächtige Statur erkennbar. Die linke Hand ist riesig und steckt in einem Wollhandschuh. „Weil er immer so kalte Finger hat.“ Die Tochter bedient den Alten mit Essen. „Die Zeit läuft für mich, sage ich mir immer.“ Kurz vorher hatte sie gesagt, das Schlimmste sei, daß es bei ihm nicht wie bei einem Kind vorangehe.

Erna Richter lebt nicht mehr ihr eigenes Leben. Vor neun Jahren starb ihr Mann an Leukämie. Ihr gemeinsamer Sohn verlangte Geld von ihr, das sie nicht hatte. Er prozessierte sogar gegen seine eigene Mutter. Er verlor 8.000 Mark Prozeßkosten, sie ihren Sohn. Sie haben keinen Kontakt mehr. Zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes starb ihre Mutter an Lungenkrebs. Zu jener Zeit zog Erna Richter in die Wohnung ihres Vaters. „Die Mutter ist tot, da schaffst du den anderen auch noch“, sagte sie sich damals. Die Frau spricht während der ganzen Zeit sehr offen, in einem merkwürdig beiläufigen Ton. Immer wieder, zwischendurch, wenn er dazwischenredet, wendet sie sich zu ihrem Vater, der neben uns sitzt. Sie ruft ihm irgendwelche kleine Lügen ins Ohr.

Der Alte ist mißtrauisch geworden. Geht es hier etwa nicht um seine Pflege? Ist der unbekannte Besucher doch nicht von der Sozialstation? Immer wieder fragt er nach Geld und nach seiner Pflegebedürftigkeitseinstufung der Krankenkasse. Hätte die Tochter ihrem schwerhörigen Vater nicht erzählt, daß der Besucher von der Pflegestation käme, würde er die ungewohnte Situation nicht dulden.

Zwei Jahre hatte sie auf einen guten Heimplatz für ihn gewartet. Vor drei Monaten hatte sie ihn endlich bekommen. Sie und ihre Zwillingsschwester – die einzige, die sie bei der Pflege unterstützt, wenn auch nur sporadisch – brachten ihn hin. Dort verweigerte er aber das Essen. Und „er verlangte jeden Tag meinen Besuch“. Sie brachte ihm Lebensmittel mit. Nein, er hatte nicht von ihr verlangt, daß sie ihn wieder rausholt von dort. „Er sagte nur, alte Leute sollte man totschlagen.“

Nach fünf Wochen holte sie ihn wieder ab. „Alle haben über mich geschimpft. Meine Freundin sagte, das ist Scheiße, was du machst.“ Aber sie hat es getan. Die fünf Wochen ohne den Vater „waren wie im Fluge vorbeigegangen.“ Dennoch, sie holte den Vater wieder in die Wohnung. Aus Mitleid? Aus Liebe? „Aus Nächsten-Liebe.“ Das Wort dehnt sie.

Ihre gelben Zähne stehen schief. Ihr Gesicht ist von tiefen Falten zerfurcht. Sie reibt ihre kleinen Augen. Sie sieht einen kaum an. Oft sieht sie nach unten. „Ich habe keine Aggressionen. Ich mache das solange wie nötig, und dann hat sich das. Mein ganzes Leben lang bin ich artig und lieb gewesen.“

Nein, sie habe es einfach nicht mehr ausgehalten, ihn ihm Heim zu lassen. Dabei wäre sie dann finanziell besser dagestanden. Die Miete für seine Wohnung wäre weggefallen. Ihr Vater ist dank ihrer Initiative in Pflegestufe III eingestuft. Das heißt, sie bekommt 900 Mark monatlich für ihre Pflege. 900 Mark bekommt auch die Pflegestation, die jeden Morgen eine Schwester zum Waschen für eine halbe Stunde vorbeischickt.

Würde die Station dreimal täglich jemanden schicken, würde sie dafür 2.800 Mark kassieren. Das heißt, die Pflegekasse zahlt der Frau für 24 Stunden weniger als der Sozialstation für 90 Minuten. Abgesehen davon bekommt ihr Vater 800 Mark Kriegsrente. Damals verlor er seine rechte Hand. Die Hälfte des Geldes bekommt sie, er tut seine Hälfte in eine Kiste. Sonst hat sie noch ihre Witwenrente, 700 Mark.

„Im Heim haben sie Vati an der Bettkante sitzenlassen. Waschen, essen, waschen, essen. Das Wasser, das sie dort bekommen, ist abgestanden.“ Nachdem er ins Pflegeheim gekommen war, hatte sie seine Wohnung gekündigt. Minuten vorher hatte sie erzählt, sie habe ihn nicht anschwindeln können. Immerhin hätte sie ihm doch sagen können, daß er nicht wieder hinauskönne, weil sie seine Wohnung bereits gekündigt hatte. Und sie war doch wirklich gekündigt! „Aber nicht so, daß ich es nicht rückgängig machen konnte.“

Warum sie das getan habe? „Ich weiß nicht, warum ich das gemacht habe.“ Ob der Vater ihr dankbar sei für alles? „Eigentlich müßte er jeden Tag danke sagen, aber er kann nicht danke sagen.“ Herumkommandieren lasse sie sich allerdings nicht von ihm. Dafür wisse er viel zu genau, wie abhängig er von ihr sei. Erna Richter spricht harte Worte über ihren Vater. Aber immer wieder wendet sie sich plötzlich ihm zu und spricht mit ihm. Lächelnd, etwas maskenhaft zwar, aber lächelnd.

Ihre Familie kommt aus Pommern, „wo heute die Polen sind“. Ihr Vater war Maurer. Er arbeitete noch mit einem Arm. Zweimal in der Woche kommt ihre Schwester zu Besuch. „Dann tuscheln wir zusammen und lachen über ihn. Wenn mein Mann noch lebte, würde ich sicher auch nicht meinen Vater pflegen. Wie sollte ich da?“

Der Vater mochte ihren Mann nicht. Er sei zu verschwenderisch gewesen, hatte er gesagt. Der Mann der Zwillingsschwester dagegen sei zu knausrig. „Vati hat an allen etwas auszusetzen.“ Ihre Beziehung sei nie besonders gut gewesen, während ihr Mann noch lebte. „Er ist ein harter Mann. Die Mutter hat er an den Haaren auf den Korridor geschleift. Sie wollte sich im Alter gegen ihn durchsetzen. Aber wenn du das als junge Frau nicht schaffst, im Alter erst recht nicht. Er war ein Teufel. Nach der Arbeit trank er, dann verhaute er die Frau.“ Sie und ihre Schwester habe er auch geschlagen, wegen Nichtigkeiten. „Er ist ein harter Mann.“ Wieder dehnt sie ihre Worte.

„Ist Ihr Vater verwirrt?“ – „Nein, er ist so klar im Kopf wie Sie und ich.“ – „Würden Sie auch mit ihm leben, wenn er verwirrt wäre?“ In diesem Moment flüstert Erna Richter das erste und einzige Mal, obwohl sie anfangs gesagt hatte, daß er uns nicht verstehen könne, auch mit Hörgerät nicht. „Dann hätte ich ihn da gelassen. – Aber es ist furchtbar, jemanden ins Heim zu bringen. Da sitzen sie nur und warten auf den Tod.“

Der Alte wird langsam mißtrauisch. Hat der Mann von der Sozialstation denn soviel Zeit? „Ich sagte dem Mann, daß es schlimm im Heim ist“, sagt sie laut, direkt in sein Ohr. „Ja, das Essen ist schlecht“, antwortet er mit merkwürdig blasser Stimme. Sie: „Ja, weil du verwöhnt bist.“ Er: „Bist du verwöhnt?“ Sie: „Ja.“ Danach brummelt der Greis wieder etwas über die zu geringen Zahlungen der Pflegekasse. Sein Blick bekommt einen zunehmend beleidigten Ausdruck.

Erna Richter erzählt zweimal, daß sie während der fünf Wochen wenigstens die Wohnung neu mit Teppich auslegen lassen konnte. Es habe zu sehr nach Urin gerochen. Jetzt wird sie unruhig, steht mehrmals auf. Schließlich: „Hören Sie auf, sonst schimpft er nachher mit mir.“ Dann, entschuldigend: „Ich unterhalte mich gerne, aber ihm reicht's.“

Zum Abschied lächelt sie freundlich, aber erleichtert. Und zugleich etwas gequält. „Alle Leute denken, ich sei eine Zwei- Zentner-Frau, weil ich meinen Vater ganz alleine pflege.“ Das sind ihre letzten Worte.