■ Unterwandern islamistische Türken die Berliner CDU? Eine Debatte zwischen Aufregung und Ahnungslosigkeit
: Gegen den Alarmismus

Wo leben die Funktionäre des CDU-Kreisverbandes Kreuzberg eigentlich? Aus allen Wolken fielen sie, als ihr Ortsverbandsmitglied Erdam Tașkiran in der jüngsten Ausgabe des Spiegel als Anhänger der islamistischen und Necmettin Erbakan nahestehenden Organisation „Milli Görüș“ geoutet wurde. „Was ist das eigentlich für eine Organisation? Wird die wirklich vom Verfassungsschutz überwacht?“ Mit solch ahnungslosen Fragen kommentierten Berliner Christdemokraten den politischen Scherbenhaufen. Immerhin hatte sich Erdam Tașkiran in den vier Jahren seiner CDU- Mitgliedschaft durch sein Engagement eine einflußreiche Position gesichert. Der 26jährige ist unter anderem Landesparteitagsdelegierter.

Zur Erinnerung: Milli Görüș wurde bereits 1976 als „Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e.V.“ gegründet, hat inzwischen offiziell über 25.000 Mitglieder und ein Vielfaches an Anhängern. Die Organisation unterhält bundesweit zahlreiche Moscheen, bietet Korankurse für Kinder und Jugendliche an. Milli Görüș führt Musterprozesse um die Freistellung von Mädchen vom koedukativen Sportunterricht, treibt die Errichtung konfessioneller Schulen voran und ventilierte vor einiger Zeit die inzwischen wieder verworfene Idee, eine islamische Partei zu gründen. Darüber hinaus hat sie in Berlin maßgeblichen Einfluß auf den Fernsehsender Türkisches Fernsehen in Berlin (TFD). Seit zwei Jahren engagiert sich das Umfeld von Milli Görüș in Berlin stark in der Jugendsozialarbeit.

Anfang 1995 teilte sich die Organisation: in die „Islamische Gemeinschaft Milli Görüș“ (IGMT), zuständig für die Organisation des sozialen und politischen Lebens. Die „Europäische Moscheebau- und Unterstützungsgemeinschaft“ dagegen ist zuständig für das Finanzielle und natürlich die Immobilien.

Kurz und gut: Milli Görüș ist seit zwanzig Jahren eine bundesrepublikanische Realität, eine Organisation, die die Interessen eines nicht unerheblichen Teils der türkischen Migranten vertritt. Sie artikuliert vor allem die Skepsis vieler eingewanderter, gläubiger Muslime gegenüber westlichen Lebensstilen, der Moderne, dem Individualismus und einer in ihren Augen hedonistischen und sexualisierten Öffentlichkeit. In Gesprächen mit Milli-Görüș-Anhängern fällt zunächst eines auf: die Sehnsucht nach Gemeinschaft, Familienglück, Harmonie, Akzeptanz als Gläubiger durch Nichtgläubige, einer drogenfreien Stadt und die Abneigung gegen all die in ihren Augen moralischen Entartungen in der Stadt.

In ihrem Wertekanon sind sie damit deutschen Konservativen recht nahe, in der ideologischen Zuspitzung und Überhöhung den Rechtsradikalen. Die Grenzen sind bekanntlich fließend. Gerade die CDU als große Volkspartei mit enormer Integrationskraft hat in der Vergangenheit ja reichlich Erfahrungen in der demokratischen Einbindung Rechtsradikaler sammeln können.

Anstatt in Alarmismus zu verfallen, täten alle, die nun auf Erdam Tașkiran einschlagen, gut daran, erst mal zu prüfen: Welche Funktionen hat der junge Mann in Milli Görüș im einzelnen und wann bekleidet? Da wird sich sicherlich die eine oder andere finden. Aber welchen Stellenwert und welche Konsequenzen hinsichtlich der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, darum geht es ja bei der Diskussion, haben diese Aktivitäten? Ganz außer acht sollte nicht bleiben, daß auch Tașkiran politische Entwicklungen und Lernprozesse zuzugestehen sind. Er mag sich tatsächlich inzwischen in der CDU gut aufgehoben fühlen, da ihn „an der Volkspartei beeindruckt, wie sie sich für den Erhalt der Familie und die innere Sicherheit einsetzt“. Die Anhänger von Milli Görüș – wie in vielen Presseberichten üblich, die sich auf den Verfassungsschutzbericht stützen – als monolithischen, straff organisierten Block radikaler Koranjünger zu betrachten, die nichts anderes im Sinne haben, als eine islamischen Gottesstaat zu errichten, ist wenig sinnvoll und auch falsch.

Es geht auch weniger dramatisch. Als aus dem politischen Umfeld von Milli Görüș 1990 der Antrag auf Einrichtung einer islamischen Grundschule gestellt wurde, herrschte zunächst Aufregung. Auch damals war bekannt, daß Milli Görüș nicht immer treu und fest auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen. Aber ein intensiver Dialog aller Beteiligten, die Festlegung auf Rahmenpläne und die Prüfung durch die Schulaufsicht zeigten nach sechs Jahren: Die islamische Grundschule arbeitet nicht schlechter als eine katholische.

Eine pauschale Verteufelung der Sympathisanten und Anhänger von Milli Görüș verkennt, wie vielfältig selbst für in Deutschland geborene Kinder der Migranten der Weg in vergleichbare Organisationen ist; welchen Stellenwert solche Vereinigungen in einer Stadt haben, die sich in der Vergangenheit Muslimen nicht immer sehr entgegenkommend gezeigt hat. Es wird in Zukunft weitere Deutsch-Türken geben, die, unter anderem aufgrund mangelnder Integrations- und Partizipationsangebote seitens der Mehrheitsgesellschaft, ihr Heil und Glück in der einen oder anderen (für deutsche Verhältnisse) zweifelhaften Organisation suchen. Und diese politischen Biographien sehen nun mal anders aus als die eines Junge-Union-Mitglieds aus Zehlendorf. Das sollte nicht nur die CDU beachten, die ihre Partei in den letzten Jahren erfreulicherweise für türkischstämmige Berliner öffnete.

Diese Öffnung der Parteien darf durch eine hysterische Diskussion um vermeintliche, vielleicht an der einen oder anderen Stelle tatsächlich versuchte Unterwanderung nicht zerstört werden. Aber genau das, so ist zu befürchten, wird passieren. Wenn die jetzt geführte Diskussion dazu führen würde, die Organisationsstruktur von Milli Görüș genauer unter die Lupe zu nehmen, wäre das sinnvoll. Denn der Fall Tașkiran offenbart, mit welcher Naivität (nicht nur) Kreuzberger Christdemokraten durch die politische Landschaft stapfen. In der Tat haben einige der Milli-Görüș-Funktionäre Leichen im Keller. Antiwestliche und antisemitische Hetze in Verbandsorganen und auf Versammlungen muß gewiß auch für die deutschsprachige Öffentlichkeit ans Licht gebracht werden. Aber mit der notwendigen Sachlichkeit, nicht pauschal, sondern mit genauer Benennung der Verantwortlichen. Bei der Auseinandersetzung um die Milli-Görüș-Aktivitäten des CDU-Mitgliedes Tașkiran bleibt bisher indes ein schaler Beigeschmack. Eberhard Seidel-Pielen